Full text: Auswahl aus der klassischen Litteratur des Mittelalters (Abt. 7 = Für Ober-Sekunda, [Schülerbd.])

Anhang. 
175 
III. Bitterliche Lyrik. 
Die ritterliche Lyrik des Mittelalters wird gewöhnlich als „Minne¬ 
sang“ bezeichnet, weil der Hauptgegenstand derselben die Minne 
(= Liebe, eigentlich Erinnerung, vergl. lat. me-min-i) war. Sie 
schloß sich ebenso an die Lyrik der Südfranzosen an wie die Epik 
die Dichtungen der Nordfranzosen zum Muster nahm, auch ihre Blüte 
fällt wie die der französischen Lyrik in den Anfang des dreizehnten 
Jahrhunderts. Der Hauptsache nach sind die Stoffe der ritterlichen 
Lyrik Liebeslust und Liebesleid meist in inniger Vereinigung mit der 
Freude über die erwachende oder mit der Trauer über die absterbende 
Natur. Die irdische Liebe erhielt aber auch eine Verklärung durch 
die Gottesminne, die sich teils in Lobliedern auf die heilige Maria, 
teils in Kreuzliedern äußerte. Neben der Minne fanden endlich, wenn 
auch nur ausnahmsweise, andere Gefühle, die das Menschenherz be¬ 
wegen, beredten Ausdruck, so vor allem die Liebe zum Vaterlande, 
Lob und Tadel einzelner Personen, besonders der Herrschenden. 
Der bedeutendste und gedankenreichste Dichter unter allen ist 
Walther von der Vogel weide. 
Walther stammte aus einem armen Adelsgeschlechte (sein Geburts¬ 
land ist unbekannt) und wurde um 11 GO geboren. In Österreich 
lernte er „singen und sagen“, führte aber nach dem Tode seines 
Gönners, Friedrichs des Katholischen (1198), als armer Edelmann ein 
Wanderleben, wobei er den größten Teil Deutschlands und die an¬ 
grenzenden Länder kennen lernte. Am liebsten weilte er in Österreich 
und auf der Wartburg am Hofe Hermanns von Thüringen. Kaiser 
Friedrich II. beschenkte ihn mit einem kleinen Lehen; ob sich aber 
Walther an dem Kreuzzuge desselben beteiligt hat, ist ungewiß. Ge¬ 
storben ist er kurz nach 1228 und liegt in Würzburg begraben. Walther 
überragt seine Sangesgenossen nicht nur durch die Schönheit und 
Mannigfaltigkeit der Form, durch die Leichtigkeit der Sprache und 
die Tiefe seiner Gedanken, sondern vor allem durch die Weite seines 
Gesichtskreises, der alle Ereignisse seiner Zeit umfasst. Er ist mit 
seinem frommen Sinne und männlichen Ernste, der sich mit inniger 
Zartheit paart, ein wahrhaft deutscher Dichter, der nie vergessen 
werden wird und darf.
	        
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