Anhang.
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III. Bitterliche Lyrik.
Die ritterliche Lyrik des Mittelalters wird gewöhnlich als „Minne¬
sang“ bezeichnet, weil der Hauptgegenstand derselben die Minne
(= Liebe, eigentlich Erinnerung, vergl. lat. me-min-i) war. Sie
schloß sich ebenso an die Lyrik der Südfranzosen an wie die Epik
die Dichtungen der Nordfranzosen zum Muster nahm, auch ihre Blüte
fällt wie die der französischen Lyrik in den Anfang des dreizehnten
Jahrhunderts. Der Hauptsache nach sind die Stoffe der ritterlichen
Lyrik Liebeslust und Liebesleid meist in inniger Vereinigung mit der
Freude über die erwachende oder mit der Trauer über die absterbende
Natur. Die irdische Liebe erhielt aber auch eine Verklärung durch
die Gottesminne, die sich teils in Lobliedern auf die heilige Maria,
teils in Kreuzliedern äußerte. Neben der Minne fanden endlich, wenn
auch nur ausnahmsweise, andere Gefühle, die das Menschenherz be¬
wegen, beredten Ausdruck, so vor allem die Liebe zum Vaterlande,
Lob und Tadel einzelner Personen, besonders der Herrschenden.
Der bedeutendste und gedankenreichste Dichter unter allen ist
Walther von der Vogel weide.
Walther stammte aus einem armen Adelsgeschlechte (sein Geburts¬
land ist unbekannt) und wurde um 11 GO geboren. In Österreich
lernte er „singen und sagen“, führte aber nach dem Tode seines
Gönners, Friedrichs des Katholischen (1198), als armer Edelmann ein
Wanderleben, wobei er den größten Teil Deutschlands und die an¬
grenzenden Länder kennen lernte. Am liebsten weilte er in Österreich
und auf der Wartburg am Hofe Hermanns von Thüringen. Kaiser
Friedrich II. beschenkte ihn mit einem kleinen Lehen; ob sich aber
Walther an dem Kreuzzuge desselben beteiligt hat, ist ungewiß. Ge¬
storben ist er kurz nach 1228 und liegt in Würzburg begraben. Walther
überragt seine Sangesgenossen nicht nur durch die Schönheit und
Mannigfaltigkeit der Form, durch die Leichtigkeit der Sprache und
die Tiefe seiner Gedanken, sondern vor allem durch die Weite seines
Gesichtskreises, der alle Ereignisse seiner Zeit umfasst. Er ist mit
seinem frommen Sinne und männlichen Ernste, der sich mit inniger
Zartheit paart, ein wahrhaft deutscher Dichter, der nie vergessen
werden wird und darf.