258
Zweiter Zeitraum des Mittelalters: 752—1096.
geschehen, wissen wir nicht; jedenfalls ist wiederum das Streben nach
Centralisation unverkennbar. Während seiner kurzen Regierung (860
bis 866) erfahren wir nicht, daß er jemals selbst in das Feld rückte.
Auch was sich sonst unter ihm ereignete, ist nur von geringem Belang.
Nach ihm bestieg A et h e lr ed, der dritte Bruder, gemäß der früher
festgesetzten Erbfolgeordnung, den Thron (reg. 866—871). Wie sein
Vorgänger, ließ er die Verbindung von Kent und Sussep mit dem
Kronlande fortbestehen, obwohl dort nach dem ehemals beobachteten
Brauche Aelfred Hütte herrschen sollen. Allein die Zcitumstäudc forder¬
ten gebieterisch, daß man von der alten Ordnung abwich; die süd¬
östlichen Küsten der Insel waren am wenigsten vor einem unvermutheten
Anfalle der Feinde sicher, nur gemeinsames Beisammenstehen aller Theile
des Reiches unter einer Oberleitung versprach erfolgreiche Verthcidigung.
So blieb das Reich ungethcilt und erlebte den seltenen, wenn nicht ein¬
zigen Fall, daß vier Brüder nach einander auf demselben Throne
folgten.
57. Äelfted der Große.
(Nach Z. M. Lappenberg, Geschichte von England, zum Theil bearbeitet vom
Herausgeber.)
Mag auch die überschwellende Verehrung früherer und die Wort¬
seligkeit späterer Zeiten manches Lob auf Aelfred gehäuft haben, welches
die Kritik wieder vernichten muß, indem sie die Keime mancher ihm zu¬
geschriebenen Einrichtung schon früher bei seinem Volke und dessen
Stammgenossen nachweis't, so erblickt doch das klare Auge unbefangener
Kritik in Aelfred den Spiegel der Könige und den Helden der euro¬
päischen Gesittung.
Die Kindheit und Jugend Aelfred's bieten ein wunderbares Vor¬
spiel dar zu dem ernsten Drama seiner männlichen Jahre. Dem Herr¬
scher Britanniens, welchen bereits drei kraftvolle Söhne umgeben, wird
im Jahre 848 von der treuen Osburge ein Knäblein geboren, welches
durch Schönheit und Lieblichkeit, wie später durch Geist und Kräfte
alle Neigung der Eltern auf sich bannet. In den Tagen, als das Reich
auf allen Seiten von den stets neu anwachscuden gefährlichsten Feinden
angegriffen wird, und jene Söhne, zum Theil schon im Mannesalter,
eine unschätzbare Gewähr für die Erhaltung des Reiches scheinen, wird
von den Alten der Plan ersonnen und gepflegt, mit Verletzung der
Reichsgesetze, mit Gefährdung des Daseins ihrer Staaten, dem theuren
Letztgcborncn die Herrlichkeit und die Macht der Krone zu übertragen.
Für die Erreichung solchen Wunsches ist kein Mittel bedenklich, kein
Pfad gefahrvoll. Das fünfjährige Königskind wird auf dem gebrech¬
lichen sächsischen Kiele den Meereswogen anvertraut, durch die Länder
unzuverlässiger Freunde gebracht, über die Firsten und Eisfelder der