19
Damals ward Theben von einem schrecklichen Ungeheuer
heimgesucht-, es war die Sphinx, die oben wie eine schöne Jung¬
frau, unten wie eine Löwin anzusehen war und an den Schul¬
tern Flügel hatte. Dies Ungethüm durchzog das Land und
gab den Leuten ein Räthscl aus, das hieß also: „Was ist das
für ein Geschöpf, das eine Stimme hat, am Morgen auf vier
Füßen, Mittags auf zweien und Abends auf drei Füßen einher¬
geht?" Das Orakel hatte aber geweissagt, daß Theben erst
dann von dieser Geißel befreit werden würde, wenn Jemand
das Rathsel gelöst hätte. Schon Viele hatten ihr Leben gewagt
und noch immer hatte sich der rechte Mann nicht gefunden. Da
erklärte die Königin Jokaste, sie wolle Hand und Krone dem
geben, der das Rathsel lösen würde.
Auch Oedipus hatte von der Roth des Landes gehört.
Muthig begab er sich an den Berg, wo sich die Sphinx gerade
aushielt, hörte das Räthsel und sein Scharfsinn fand sogleich
die Lösung. „Das Räthsel," sagte er, „ist der Mensch; am
Morgen des Lebens kriecht er auf vier Füßen, Mittags steht er
auf zweien und am Abend nimmt er als dritten Fuß den Stab
zu Hülfe." Da stürzte sich die Sphinx überwunden in den Ab¬
grund und lag zerschmettert am Boden.
Der Sieger zog in Theben ein und empfing Jokafte's Hand
und den Königsthron. Das Orakel war nun vollständig erfüllt,
ohne daß Oedipus eine Ahnung davon hatte. Zwanzig Jahre
führte er über Theben eine milde Herrschaft, als eine furchtbare
Pest ausbrach und viele Tausende hinraffte. Da kein Mittel
Helsen wollte, fragte man das Orakel um Rath und erhielt den
Spruch, die Pest sei eine Strafe der Götter, weil des Laios
Tod unbestraft geblieben sei, und werde nicht eher aufhörcn, bis
der Mörder aufgefunden und bestraft sei. Oedipus stellte nun
Nachforschungen an, und diese führten allmählich zur Entdeckung
des ganzen Geheimnisses: er erfuhr seine Herkunft, seine Aus¬
setzung, und die ganze unheilvolle Verkettung der Umstände lag
offen vor seinem Geiste da. Jokaste erhenkte sich aus Verzweif¬
lung, Oedipus stach sich mit eigener Hand die Augen aus.
Er hatte zwei Söhne, Eteokles und Polinikcs. und
zwei Töchter, Antigone und Ismene. Die beiden Söhne
sprachen über den unglücklichen Vater die Verbannung aus, und
so irrte der tiefgebeugte Greis, von Allen verlassen, nur geführ
2*