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„Sie hat bessere Zeiten gesehen," flüsterte Lühnchen mir zu. „Sie stammt aus
einer reichen Familie, die aber später verarmt ist. Zn ihrer Zugend hat sie von
silbernen Tellern gespeist. Sie hätte sich fünfmal vorteilhaft verheiraten können —
einmal sogar mit einem Grafen — aber sie hat nicht gewollt. Sie hat schwere
Schicksale erlitten und ist dadurch etwas muffig und säuerlich geworden, aber wir
behandeln sie mit Schonung — natürlich — wie du dir wohl denken kannst."
Den Garten zeigte mir Hühnchen mit großem Stolz. Die Wasserkunst war
fertig und erwies sich als ein kleiner, fadendünner Springbrunnen von fast ein Meter
Löhe, der sein Gewässer in eine mit bunten Steinchen ausgelegte Schale ergoß.
„Leider ist er ein wenig asthmatisch," sagte Lühnchen, „denn sein Bassin ist nur
klein und muß alle halbe Stunde gefüllt werden. Aber es sieht doch opulent und
festlich aus."
Am Weinstock waren in diesem Zahre fünfzehn Trauben gewachsen, und der
Nußbaum trug einundzwanzig Früchte.
„Eigentlich sind es fünfundzwanzig gewesen," sagte Lühnchen, „allein drei sind
vorher abgefallen, und eine war auf unbegreifliche Art verschwunden. Aber noch am
selben Abend, als Lore den Kindern, die schon im Bett lagen, gute Nacht sagte,
fingen beide an unermeßlich zu schluchzen und gestanden unter vielen Tränen, wo die
Vermißte geblieben war. Lans hatte, getrieben vom Dämon der Genußsucht, sie
unterschlagen und dann Frieda zur Teilnahme an dieser Antat verführt. Sie waren
mit ihrem Raub auf den Boden gegangen und hatten ihn dort gemeinschaftlich
verzehrt."
Wir gelangten nun an den Birnbaum. „Lier ist eine schmähliche Täuschung
zu verzeichnen," sagte Lühnchen; „der Schuster hat sich als ein Lügenbold erwiesen,
denn anstatt Bergamotten hat dieser Baum ganz gemeine Kräuterbirnen hervorgebracht.
Den Kindern hat es jedoch viel Vergnügen bereitet, denn sie schätzen diese harmlose
Frucht ungemein."
Nach Besichtigung der Menagerie, in welcher die Säugetiere durch ein schwarzes
Kaninchen, die Vogelwelt durch einen jungen Star ohne Schwanz und die
Amphibien durch einen melancholischen Laubfrosch vertreten waren, führte mich Lühnchen
in einen schattigen Winkel des kleinen Gärtchens, woselbst ein Lügel, aus Erde, Ankraut,
halbvermodertem Strauchwerk, Laub und Küchenabfällen zusammengesetzt, sich meinen
Blicken zeigte.
„Diese Einrichtung bitte ich mit Ehrfurcht zu betrachten," sagte er, „denn hier
schlummert die Zukunft. Dies ist nämlich der Komposthaufen. Kraft und Milde,
Süßigkeit und Würze liegen hier begraben, um in späteren Zähren glanzvoll zur
Auferstehung zu gelangen und als köstliches Gemüse oder süße Frucht uns zu nähren
und zu laben."
Die Kinder kamen jetzt, jedes mit einem Körbchen und einer Schere ausgerüstet,
aus dem Lause, und wir begaben uns in die Laube, woselbst auf dem Tische eine
kleine Kinderkanone aus Messing bereits geladen unserer harrte. Lühnchen entzündete
feierlich ein Stückchen Feuerschwamm, das an einem Stöckchen befestigt war, und
feuerte mit großem Geschick diesen festlichen Böller ab. Er gab einen kleinen,
zimperlichen Knall von sich, und die Weinlese begann. Bei dem stürmischen Eifer
der kleinen Winzer war sie in einer halben Minute beendigt. Auch das festliche
Nußpflücken nahm nicht mehr Zeit in Anspruch. Lühnchen nahm nun eine kleine
Blechpfeife aus der Tasche, stellte sich an die Spitze seiner Nachkommenschaft und hielt
einen feierlichen Amzug durch den Garten, wozu er einen herzbewegenden Marsch in
einer verkehrten Melodie nach einem falschen Tempo blies. Nachdem dieser Amzug
beendet und die eingesammelten Früchte abgeliefert waren, machte sich Lühnchen an
die Vorbereitungen zum Feuerwerk, da die Dunkelheit bereits hereingebrochen war.
Nach einer erwartungsvollen Pause ward es durch einen der bereits bekannten Böller-
Schmidt u. Ewert. 21