Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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„Sie hat bessere Zeiten gesehen," flüsterte Lühnchen mir zu. „Sie stammt aus 
einer reichen Familie, die aber später verarmt ist. Zn ihrer Zugend hat sie von 
silbernen Tellern gespeist. Sie hätte sich fünfmal vorteilhaft verheiraten können — 
einmal sogar mit einem Grafen — aber sie hat nicht gewollt. Sie hat schwere 
Schicksale erlitten und ist dadurch etwas muffig und säuerlich geworden, aber wir 
behandeln sie mit Schonung — natürlich — wie du dir wohl denken kannst." 
Den Garten zeigte mir Hühnchen mit großem Stolz. Die Wasserkunst war 
fertig und erwies sich als ein kleiner, fadendünner Springbrunnen von fast ein Meter 
Löhe, der sein Gewässer in eine mit bunten Steinchen ausgelegte Schale ergoß. 
„Leider ist er ein wenig asthmatisch," sagte Lühnchen, „denn sein Bassin ist nur 
klein und muß alle halbe Stunde gefüllt werden. Aber es sieht doch opulent und 
festlich aus." 
Am Weinstock waren in diesem Zahre fünfzehn Trauben gewachsen, und der 
Nußbaum trug einundzwanzig Früchte. 
„Eigentlich sind es fünfundzwanzig gewesen," sagte Lühnchen, „allein drei sind 
vorher abgefallen, und eine war auf unbegreifliche Art verschwunden. Aber noch am 
selben Abend, als Lore den Kindern, die schon im Bett lagen, gute Nacht sagte, 
fingen beide an unermeßlich zu schluchzen und gestanden unter vielen Tränen, wo die 
Vermißte geblieben war. Lans hatte, getrieben vom Dämon der Genußsucht, sie 
unterschlagen und dann Frieda zur Teilnahme an dieser Antat verführt. Sie waren 
mit ihrem Raub auf den Boden gegangen und hatten ihn dort gemeinschaftlich 
verzehrt." 
Wir gelangten nun an den Birnbaum. „Lier ist eine schmähliche Täuschung 
zu verzeichnen," sagte Lühnchen; „der Schuster hat sich als ein Lügenbold erwiesen, 
denn anstatt Bergamotten hat dieser Baum ganz gemeine Kräuterbirnen hervorgebracht. 
Den Kindern hat es jedoch viel Vergnügen bereitet, denn sie schätzen diese harmlose 
Frucht ungemein." 
Nach Besichtigung der Menagerie, in welcher die Säugetiere durch ein schwarzes 
Kaninchen, die Vogelwelt durch einen jungen Star ohne Schwanz und die 
Amphibien durch einen melancholischen Laubfrosch vertreten waren, führte mich Lühnchen 
in einen schattigen Winkel des kleinen Gärtchens, woselbst ein Lügel, aus Erde, Ankraut, 
halbvermodertem Strauchwerk, Laub und Küchenabfällen zusammengesetzt, sich meinen 
Blicken zeigte. 
„Diese Einrichtung bitte ich mit Ehrfurcht zu betrachten," sagte er, „denn hier 
schlummert die Zukunft. Dies ist nämlich der Komposthaufen. Kraft und Milde, 
Süßigkeit und Würze liegen hier begraben, um in späteren Zähren glanzvoll zur 
Auferstehung zu gelangen und als köstliches Gemüse oder süße Frucht uns zu nähren 
und zu laben." 
Die Kinder kamen jetzt, jedes mit einem Körbchen und einer Schere ausgerüstet, 
aus dem Lause, und wir begaben uns in die Laube, woselbst auf dem Tische eine 
kleine Kinderkanone aus Messing bereits geladen unserer harrte. Lühnchen entzündete 
feierlich ein Stückchen Feuerschwamm, das an einem Stöckchen befestigt war, und 
feuerte mit großem Geschick diesen festlichen Böller ab. Er gab einen kleinen, 
zimperlichen Knall von sich, und die Weinlese begann. Bei dem stürmischen Eifer 
der kleinen Winzer war sie in einer halben Minute beendigt. Auch das festliche 
Nußpflücken nahm nicht mehr Zeit in Anspruch. Lühnchen nahm nun eine kleine 
Blechpfeife aus der Tasche, stellte sich an die Spitze seiner Nachkommenschaft und hielt 
einen feierlichen Amzug durch den Garten, wozu er einen herzbewegenden Marsch in 
einer verkehrten Melodie nach einem falschen Tempo blies. Nachdem dieser Amzug 
beendet und die eingesammelten Früchte abgeliefert waren, machte sich Lühnchen an 
die Vorbereitungen zum Feuerwerk, da die Dunkelheit bereits hereingebrochen war. 
Nach einer erwartungsvollen Pause ward es durch einen der bereits bekannten Böller- 
Schmidt u. Ewert. 21
	        
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