Full text: Poesie für das Seminar (Teil 3, [Schülerband])

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Erster Teil. Tie Zeitalter der deutschen Dichtung. 
e. Das junge Deutschland. 
Die Begeisterung der Freiheitskriege hatte einer tiefen Verstimmung im deutschen Volke 
Platz gemacht, das sich in seinen Hoffnungen aus ein einiges Deutsches Reich mit freierer 
Verfassung getäuscht sah. Nun gab noch die französische Julircvolution den Anstoß zu einer 
literarischen Bewegung, die sich durch Verneinung fast alles Bestehenden kennzeichnete- 
An der Spitze dieser Bewegung standen zwei getaufte Juden, Ludwig Börne und Heinrich 
Heine, von denen namentlich der letztere vermöge seiner hervorragenden Begabung einen 
unheilvollen Einfluß auf unser Volk ausgeübt hat. Man nennt diese Richtung „Dcw 
junge Deutschland", obwohl in ihr von deutschem Geiste nichts, von deutschfeindlichem 
viel zu spüren ist. 
113. Heinrich Heine, 
1799—1856, geb. zu Düsseldorf als Sohn eines jüdischen Handelsmannes. Er wurde 
zuerst Kaufmannslehrling, später verhalf ihm ein Oheim zum Studium der Rechte. Aus 
der Universität beschäftigte er sich vorwiegend mit Literatur und schloß sich an die Roman¬ 
tiker an. Nach Ablegung des juristischen Staats- und Doktorexamens ließ er sich taufen, 
um bessex fortzukommen. 1831 nahm er seinen dauernden Aufenthalt in Paris und schnev 
dort seine revolutionären Schriften. Er schämte sich nicht, von der französischen Regierung 
ein jährliches Almosen von 4800 Frank anzunehmen. Wie sehr er Franzose geworden 
war, geht schon daraus hervor, daß er fast nur in französischer Sprache schrieb. Den 
schlimmsten Feind, den unser Vaterland je gehabt, Napoleon I., betete er förmlich an- 
Seiner Vaterlandslosigkeit ist seine Glaubens- und Sittenlosigkeit ebenbürtig. Die Fo^. 
derungen des Sittengesetzes sind ihm lästige Fesseln, freier Menschen unwürdig. Noch ans 
seinem Sterbebette spottete er über die Religion. Beißender Spott und kalter Hohn, dem 
nichts heilig ist, sie sind auch in seinen Dichtungen nicht selten zu finden. Kein anderer 
Dichter zeigt so schroffe Gegensätze wie er. Manche seiner Gedichte sind herrlich und 
hören zu dem Schönsten, was die deutsche Literatur besitzt: daneben aber stehen andere, 
und ihre Zahl ist nicht gering, die das sittliche und religiöse Gefühl auf das tiefste em¬ 
pören. („Buch der Lieder", „Romanzero", „Atta Troll", „Reisebilder".) — S. S. 280, 
420, 464 des I. Teiles. 
„Sämtliche Werke", herausgeg. von E. Elster. Leipzig und Wien. Bibliographisches 
Institut. 
Die Totosblumc. 
1. Die Lotosblume ängstigt 
Sich vor der Sonne Pracht, 
Und mit gesenktem Haupte 
Erwartet sie träumend die Nacht. 
2. Der Mond, der ist ihr Buhle, 
Er weckt sie mit seinem Licht, 
Und ihm entschleiert sie freundlich 
Ihr fronrmes Blumengesicht. 
3. Sie blüht und glüht und leuchtel 
Und starret stumm in die Höh'; 
Sie duftet und weinet und zittert 
Bor Liebe und Liebesweh. 
Kichtenvaum und ^atme. 
l. Ein Fichtenbaum steht einsam 
Im Norden auf kahler Höh'. 
Ihn schläfert; mit weißer Decke 
Umhüllen ihn Eis und Schnee. 
2. Er träumt von einer Palme, 
Die fern im Morgenland 
Einsam und schweigend trauert 
Auf brennender Felsenwand. 
Segenswunsch. 
1. Du bist wie eine Blume 
So hold und schön und rein; 
Ich schau' dich an, und Wehmut 
Schleicht mir ins Herz hinein. 
2. Mir ist, als ob ich die Hände 
Aufs Haupt dir legen sollt', 
Betend, daß Gott dich erhalte 
So rein und schön und hold.
	        
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