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Marken Rüdigers von Bechlarn, der das ganze große Heer der Burgunden-
^ könige mit ihren dreitausend Vasallen und neuntausend Knechten mit fürst-
licher Gastfreiheit aufnimmt und fast eine Woche lang zu Bechlarn köstlich
bewirtet. Es geschieht wohl sonst auch im Leben, daß, ehe schweres Leid über
5 uns hereinbricht, ehe der Tod durch den Familienkreis hindurchschreitet und
die Stätte der Freude und Liebe auf immer verödet, noch kurz vorher zum
letztenmal die heiterste Freude und innigste Liebe einen solchen Kreis enger
und traulicher als jemals zusammenschließt. Ein solches Lebensbild stellt
uns auch unser Lied mit tiefem deutschen Heimatsgefühl und Familiensinn
10 in dem Aufenthalte der Burgunden bei dem treuen, offenen, edlen Rüdiger,
bei dessen Gemahlin, der milden Gotelind, und der in holder Schönheit er¬
blühenden Tochter des edlen Elternpaares dar, kurz, ja unmittelbar vor der
Schilderung des gräßlicheil Unterganges aller derer, die in Bechlarn in Friede
und Freude versammelt sind. — Mit dem deutschen Kusse empfangen Haus-
15 srau und Tochter die lieben Gäste, des Hausherrn alte Freunde, ihrer Königin
Brüder und Verwandte, und in kindlicher Unschuld geht das holde Mägdelein
die Reihe der Helden hinab, ihnen den Kuß des Willkommens darzubringen
— doch als sie an Hagen gelangt, schauert Dietlinde zusammen vor den
grausigen Zügen, und nur auf Zureden des Vaters reicht sie ihm die er-
20 bleichende Wange dar. — Heiterkeit herrscht an der fröhlichen Tafel, an
welcher die schöne edle Hausfrau selbst waltet; fröhliche Lust in den Stunden
des Nachmittags, in welchen die Tochter des Hauses mit ihren Jungfrauen
wieder erscheint und den edlen Volker von Alzei zu lieblichem Saitenspie!
und ergötzlichen Scherzliedern begeistert. Den Gipfel der Freude erreicht
25 das trauliche Zusammenleben, als die Burgundenmannen um die liebliche
Tochter Rüdigers für den jüngsten ihrer Könige, Giselher, werben und die
Verlobung des schönen jugendlichen Paares unter allgemeiner freudig^
Zustimmung zustande kommt. Bei der Rückkehr der Burgunden will ihnen
der Vater sein liebes Kind Dietlinde mitgeben an den Rhein. Noch einmal
30 läßt Volker die süßen Töne seines Saitenspiels erklingen und singt seine
ernsten und fröhlichen Lieder, die alle Herzen bewegen — da naht die Stunde
des Scheidens; zum Zeichen der innigen Verbindung und lebenslänglicher
Heldenfreundschaft schenkt Rüdiger an Gernot das Schwert, die treue liebe
Waffe, die er in manchem Streit, in manchem Sturm geführt. Seitdem
35 trug sie Gernot, und der letzte Schlag, den sie tat, fiel tödlich auf des milden
Rüdigers eigenes edles Haupt, geführt von Gernots Hand! Hagen erhall
von Frau Gotelind den Schild zum Angedenken, den ihr Vater Nodung
führt und der als ein teures Vermächtnis des früh Gefallenen in der Waffen'
halle Rüdigers gehangen hat. Die Heldenscharen ziehen dahin nach dein
40 Hennenlande, dem unabwendbaren Verhängnis entgegen.