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schön singen? Sie freuen sich auch an den bunten Blumen der Felder
und Wiesen und hüpfen hinaus, um ihren Duft einzusaugen; wie lange
wird's dauern, so ist's in mir ganz öde und leer. Hätte ich aber auch
schöne, duftende Blumen, so würde es recht hübsch und lebendig bei mir
werden!“
Da erhob der Wald seine Stimme und rief unter die Feld⸗ und
Wiesenblumen hinein: „Ihr guten Kinder, wenn doch einige von euch
zu mir kämen, daß es auch bei mir bunt aussähe und Wohlgerüche die
Luft durchzögen; sonst zieht alles aus von mir zu euch auf Feld und
Wiese, und ich muß ganz verlassen sein!“
Dabei fing der Wald an zu weinen, daß den Wiesenblumen die
Tropfen auf die Köpfe fielen, und siehe, eine solche Thräne fiel auch in
den Kelch des Maiblümchens. Das hatte gehört, wie beweglich der Wald
bat und klagte, und es sprach daher zu den Blumen, die ringsum standen;
„Wollen wir nicht dem Walde helfen und hineinziehen? Ich glaube nicht,
daß es darin so garstig ist, als wir denken. Freilich haben wir keine
freie Luft und nicht immer warme Sonne, aber seine Klagen machen mir
das Herz weich. Wer zieht mit mir in den Wald?“
So sprach das Maiglöckchen, welches damals mitten auf einer Wiese
stand, von Mitleiden mit dem Walde bewegt, und obgleich nicht viele
von seinen Schwestern Lust hatten, in dem finstern Walde zu wohnen,
so hätten sie doch um keinen Preis die Gesellschaft des Maiglöckchens
verlassen, weil es gegen alle so gut und freundlich war
Als daher das Maiblümchen seine Beinchen, eins nach dem andern,
aus der Erde zog, um in den Wald zu wandern, da machte sich auch der
größte Teil seiner Gespielinnen auf und zog mit.
Der Wald aber nahm sie freundlich auf und sah bald so bunt aus,
daß er gar nicht mehr Ursache hatte, Felder und Wiesen zu beneiden.
Daher blieben auch die Vögel da, und die meisten von denen, die schon
ausgeflogen waren, kamen wieder, und viele Fliegen, Käfer, Schmetter—
linge und anderes Getier. Und der Wald breileke seine Zweige über
das Maiglöckchen, daß es niemand finden und pflücken möchte, denn es
sollte bei ihm bleiben mit seinem herrlichen Wohlgeruche und geschützt vor
allem Übel.
Wer daher Maiglöckchen sucht, der muß gute Augen haben, denn
der Wald hält sie aus Dankbarkeit gut verborgen und will sie sich nicht
entreißen lassen
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