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von Spanien, von Nordamerika. Und doch wird man deshalb keinem von
diesen Völkern seine bestimmte und eigentümliche Nationalität absprechen
wollen. Andererseits stehen beispielsweise die Angelsachsen in England und
Amerika, was die Abstammung betrifft, den deutschen Bewohnern der Nord¬
seeküste näher als diese den Bayern oder Schwaben, die Bewohner von
Wales und dem schottischen Hochland den Bretagnern näher als den Eng¬
ländern, während es sich doch mit der Nationalität und dem Gefühl nationaler
Zusammengehörigkeit umgekehrt verhält. So unleugbar daher auch die
Gemeinsamkeit der Abstammung die ursprüngliche Grundlage der Nationalität
bildet, so ist sie doch weder die einzige, noch ihre unerläßliche Bedingung;
es machen sich vielmehr neben jener im Verlauf der geschichtlichen Entwickelung
noch andere Momente geltend, und diese können ihr gegenüber ein solches
Übergewicht erlangen, daß die Bedeutung der Abstammung dagegen ver¬
schwindet. Ein Volk kann Massen von Ausländern in sich aufnehmen,
ohne dadurch iu seiner Nationalität eine erhebliche Veränderung zu erfahren,
wenn diese der fremden entschieden überlegen ist, oder wenn der Eintritt
der ausländischen Elemente so allmählich erfolgt, daß die einheimische Be¬
völkerung Zeit hat, sie vollständig zu assimilieren, ehe sie zahlreich genug
geworden sind, um eine selbständige gesellschaftliche Gruppe zu bilden; und
Personen aus fremdem Stamme können in den Charakter des Volkes, dem
sie jetzt angehören, so vollständig eingetreten sein, daß trotz ihrer Abkunft
über ihre Nationalität nicht der mindeste Zweifel obwalten kann. So waren
z. B. Kants Vorfahren aus Schottland in Preußen eingewandert, und
LeibnizH scheint aus wendischem Geblüt entsprossen zu sein; aber deshalb
waren doch diese beiden großen Philosophen gute Deutsche, und wir sind
vollkommen berechtigt, sie, wie so viele, die aus fremden Ländern abstammen,
die aber Deutschland ihre Bildung verdanken und ihm ihre Kräfte gewidmet
haben, in jeder Beziehung zu den unseren zu zählen.
Andererseits darf man aber doch die Nationalität auch nicht mit dem
Bürgerrecht in einem politischen Gemeinwesen, mit der Staatsangehörigkeit
verwechseln. Es können vielmehr verschiedene Nationalitäten in einem und
demselben Staate vereinigt sein, wie dies heutzutage in geringerem Grade
fast überall, am auffallendsten in Österreich, in der Schweiz, in Großbritannien
und N damerika der Fall ist; und wenn hierbei allerdings nicht selten
der Einheit des Staates durch das Auseinanderstreben der Nationalitäten
eine ernstliche Gefahr droht, so fehlt es doch nicht an Beispielen von Staaten,
in denen die Gemeinsamkeit der Interessen und der politische Gemeingeist
die nationalen Gegensätze überwiegt und ein friedliches Zusammensein und
bereitwilliges Zusammenwirken der verschiedenen Nationalitäten herbeiführt.
1) 1646 — 1716.