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ihre Sprache verstand, kein Herz mehr, das sich über ihre Leiden
erbarmte.
25 ¿'4. Als aber einer den andern mit trostloser Miene anblickte:
„Was wird aus uns werden?" oder: „Wann wird der Tod unserm
Elend ein Ende machen, und wer wird den letzten begraben?" da
vernahmen sie mitten durch das russische und kosakische Kauder¬
welsch wie ein Evangelium vom Himmel unvermutet eine Stimme:
30 „Sind keine Deutsche da?" Und es stand vor ihnen auf zwei nicht
ganz gleichen Füßen eine liebe, freundliche Gestalt. Das war der
Schneider von Pensa, Franz Anton Egetmeier, gebürtig aus Breiten
im Neckarkreis, Großherzogium Baden.
5. Hat er nicht im Jahr 1779 das Handwerk gelernt in
35 Mannheim? Hernach ging er aus die Wanderschaft nach Nürn¬
berg, hernach ein wenig nach Petersburg hinein. Ein Pfälzer-
Schneider schlägt sieben- bis achtmalhundert Stunden Weges nicht
hoch an, wenn's ihn inwendig treibt. In Petersburg aber ließ er
sich unter ein russisches Kavallerieregiment als Regimentsschneider
40 aufnehmen und ritt mit ihm in die fremde russische Welt hinein,
wo alles anders ist, nach Pensa, bald mit der Nadel stechend bald
mit dem Schwert. In Pensa aber, wo er sich nachher häuslich
und bürgerlich niederließ, ist er jetzt ein angesehenes Männlein.
Will jemand im weiten Umkreis ein sauberes Kleid nach der Mode
45 haben, so schickt er zu dem deutschen Schneider in Pensa. Verlangt
er etwas von dem Statthalter, der doch ein vornehmer Herr ist
und mit dem Kaiser reden darf, so hat's ein guter Freund vom
andern verlangt; und hat auf dreißig Stunden Weges ein Mensch
ein Unglück oder einen Schmerz, so vertraut er sich dem Schneider
50 von Pensa an; er findet bei ihm, was ihm fehlt, Trost, Rat, Hilfe,
ein Herz und ein Auge voll Liebe, Obdach, Tisch und Bett, nur
kein Geld.
6. Einem Gemüte, wie dieses war, das nur in Liebe und Wohl¬
tun reich ist, blühte auf den Schlachtfeldern des Jahres 1812 eine
55 schöne Freudenernte. So oft ein Transport von unglücklichen Ge¬
fangenen kam, warf er Schere und Elle weg und war der erste
auf dem Platze, und „Sind keine Deutsche da?" war seine erste
Frage. Denn er hoffte von einem Tag zum andern, unter den Ge¬
fangenen Landsleute anzutreffen, und freute sich, wie er ihnen Gutes
60 tun wollte, und liebte sie schon zum voraus ungesehenerweise. „Wenn