fullscreen: Hessisches Lesebuch für Fortbildungsschulen

219 
— 
an die gesunde Brust und hing mit einem zufriedenen mütterlichen 
Blicke über dem saugenden Knaben. Wie grob, wie reich, dachte 
ich, ist nicht diese Frau“ Um zu mähen, zu binden, zu säugen und 
Frau zu sein, dazu gehören vier Personen. Aber diese ihre Gesund- 
heit und Geschicklichkeit dient für vier. 
Wenn ich es also als ein Gesetz annehme, dah Armut schimpf- 
lich sein mũüsse, sobald sie nicht durch ein besonderes Unglück ehrlich 
gemacht wird, so versstehe ich darunter den Mangel, der aus Un- 
geschicklichkeit und Faulheit entspringt, und mache mit Fleihb 
dieses grobe Gesetz hart, weil wir von Natur ohnehin weichherzig 
genug sind, mit jedem Armen ohne Untersuchung Mitleid zu haben, 
und unser Herz insgemein den Verstand betrügt, wenn es aufs Wohl- 
tun ankommt. Das Sprichwort: «Armut schimpft niemand» dient 
insgemein nur dem stolzen Armen, dessen Eitelkeit sich beleidigt 
fühlt. Und wenn wir mit dem Armen ins Verhör gehen, so finden 
sich immer viele zweideutige Umstände zu seiner Entschuldigung. 
Daher mag die Armut überhaupt immer etwas Verächtliches be— 
halten, wenn wir nur dabei unsere Hochachtung gegen die EFrau, die 
zugleich maht, bindet und säugt, verdoppeln. Jene Verachtung 
und diese Hochachtung müssen zusammen bleiben und die Beweg- 
gründe zum Fleih verstärken. 
Man teile alle Armen in drei Klassen. 
In die ersste Klasse sollen diejenigen kommen, welche durch 
Unglũcksfalle oder Gebrechlichkeit arm sind und Hilfe und Schonung 
verdienen. 
In die andere alle, welche eben keine Schonung verdienen und 
sich nur damit entschuldigen, dab sie keine Gelegenheit zu arbeiten 
haben, um ihr Brot zu verdienen. 
In die dritte alle mutwilligen Bettler, die durch ihr eigen 
Verschulden arm sind und gar nicht arbeiten wollen, obgleich sie 
Gelegenheit, Geschicklichkeit und Kräste dazu haben. 
Die erssste Klasse werde durch öffentliche Vorsorge zu Hause 
versorgt, die andere mit Arbeit versehen und die dritte in dem an- 
gelegten Arbeitshause dazu — gezwungen. 
Man sieht leicht ein, dab alles auf die Vorkehrungen für die 
zweite Klasse ankommt. Diese mũssen so getroffen werden, dab sie 
den fleibigen Mann hinlänglich abhalten, nicht zu frühe seine Hand 
sinken zu lassen, und dab sich diejenigen der zweiten Klasse nicht
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.