Full text: Poesie und Prosa für die dritte Klasse (Teil 1, [Schülerband])

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Teil nochmals befühlt, sich überzeugt, ob Öl in allen Schmiergefäßen, der Rost 
gehörig von Schlacke gereinigt, die Siederohre des Kessels von Asche befreit, nichts 
locker und nichts zu klamm angezogen und sein „Greif" imstande sei, seine Riesen¬ 
glieder geschmeidig spielen zu lassen, seine 150 Pferdekräfte frei zu entwickeln und 
seinen gewaltigen Leib mit der daranhängenden Last, über 2000 Zentner schwer, 
mit Adlerschnelligkeit durch die Sturmnacht fortzureißen. 
„Will die Verwaltung immer noch nicht dran, euch armen Kerls Schutzkabinen 
auf die Maschinen zu bauen?" fragt der Inspektor den Lokomotivführer; „ihr müßt 
barbarisch da vorn in einer solchen Winternacht leiden." — „Ja, ja, die Herren in 
ihrem Sessionszimmer wiffen's nicht, wie ein Schneenordost schneidet", antwortet 
der Führer aus seinen dicken Tüchern dumpf heraus, „und meinen, wir hörten und 
sähen nichts in dem Häuschen. Ob man wohl besser mit so verbundenen Ohren 
hört, mit so entzündeten Augen sieht?" setzte er lachend hinzu, auf seinen Kopf 
deutend, und dann: „Fertig, Herr! Sie können's Zeichen geben lassen". Der 
Inspektor winkt, die tobende Perronglocke jagt mit grellem Schellenlaut nochmals 
die Schläfer in den Wagen empor, und ihre letzten Töne verschwimmen in dem 
noch abscheulicheren, langgehaltenen Pfiffe der Maschine. Dann hört man draußen 
die lauten Doppelschläge der elektrischen Glocken c, e, — c, e — c, e im Sturmwind 
verwehen. „Gott behüt' dich, Zimmermann", sagt die Frau, dem auf der Maschine 
stehenden Führer noch einmal die Hand reichend. — „Gute Nacht, Frau! Denkt 
an mich, wenn Ihr warm liegt." — „Du armer Karl." — Er legt die pelzbehand¬ 
schuhte Faust auf den Regulator, ein Ruck, die Maschine setzt sich in Bewegung, 
stöhnend, wie widerwillig, folgen ihr die Wagen, puffend bläst sie die erste Dampf¬ 
wolke gegen das Dach der Halle, die zweite schon in das Schneegestöber, daß die 
Flocken, wie entsetzt emporgerissen, auseinanderstieben. Heulend fällt der schneidende 
Sturm die beiden schweigenden Männer auf der Maschine, den Lokomotivführer 
und den Heizer, an, und schießt ihnen, wie Eisnadeln, horizontal fast, die im 
Scheine der Lokomotivlaternen glitzernden und wie Millionen kleine, kalte Quäl¬ 
geister tanzenden Schneeflocken ins Gesicht. Der Führer sieht sich um, ob auf dem 
Zuge alles recht und in Ordnung. Der Schein der beleuchteten Wagenfenster gleitet 
über den Schnee. — Wie behaglich muß es im gepolsterten, warmen Coupe sein! — 
Auf den Wagen, wie schwarze Klumpen, sitzen die Schaffner, in Pelze und 
Mäntel vergraben, der Sturm fährt mit wüstem Zischen zwischen Rädern und 
Wagen durch. 
Die roten Lichter der Signale an den Ausweichungen gleiten langsam vorüber; 
jetzt hat der Zug das letzte derselben hinter sich und ist auf freier, offener Bahn. 
Rabenfinster, sturmtobend, schneedurchrieselt liegt die Nacht vor dem Führer, 
kaum den Schornstein seiner Maschine kann er sehen. Welche Gefahren birgt diese 
Finsternis für ihn? Hat ein Arbeiter eine Hacke auf der Bahn liegen lassen? Hat 
der Sturm einen Signalbaum umgelegt oder einen Wagen von einer Station auf 
die Bahn hinausgetrieben? Hat der Druck der Schneewehen die Telegraphenleitung 
gestürzt? Oder ist nur eine Ausweichung nicht auf dem rechten Geleise? Hat 
eine aus dem Boden sickernde Quelle einen Eisklumpen auf dem Geleise gebildet?
	        
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