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Martha, in ihrem Kreise hat Jesus geruht von der heiligen
Arbeit; hier hat der aus Jerusalem Verstoßene ein Obdach, der
Heimatlose eine Heimat, der von seinem Volke einem Missethäter
gleich Verachtete Liebe und Ehre gefunden. Bethanien ist recht
ein Ort der stillen Liebe. Es ist so einsam, so traulich an den
Berg gebaut, rings von schattigen Bäumen, von grünenden Fel¬
dern umgeben, daß man, wenn man's auch nur anschaut aus
der Ferne, Wohnung darin haben möchte. — Mit Bethanien
übersieht dein Blick den Oelberg. Den Oelberg! — jede Spanne
des Berges eine Geschichte. Nahe liegt Gethsemane, unten
an seinem Fuße der Oliv eng arte n *) und oben auf dem Gipfel
die Himmelfahrtskirche. Steht der Sinai in der Wüste wie
ein Berg des Zorns, so ist der Oelberg mit seinen Bäumen wie
ein Berg des Friedens anzuschauen. Auch in dem Oelgarten ha¬
ben die Türken einen Beweis ihres tiefen Sinnes gegeben. Wie
ihre Hand vor Absalom's Grab die fluchbeladenen Steine thürmt,
so haben sie auch die Stätte im Oelgarten, wo Judas den
Herrn verrieth, mit Felsblöcken umgeben, damit das schmähliche
Gedächtniß des Verräthers nimmer erlösche.
Immer noch stand ich auf der Terrasse, wo rings umher
die Zellen der gläubigen Beter sind, und mein Auge war im
Schauen fast wie eingewurzelt. Jahrtausende sind über dich hin¬
gegangen, Jerusalem, und heute noch, wie das Grab eines
Gottes, stehen deine Zinnen. Drei Religionen säugtest du als
treue Mutter an deinem Busen, und jeder Stein deiner Mauern
ist ein Zeuge großer Thaten. Zwar ist deine äußere Macht ge¬
brochen, und du sitzest nicht mehr im Rathe der Völker; aber
groß und gewaltig bist du noch heute durch die Erinnerungen,
die du in deinem Schooße birgst, und der kleinste Raum deines
Bodens mit seinen Begebnissen wiegt die Geschichte manches
Landes auf; und heilig wirst du den Völkern bleiben, auch wenn
eine dritte, noch fürchterlichere Zerstörung dich treffen und aber¬
mals kein Stein auf dem andern bleiben sollte, wie in jenen
Tagen, wo der Würgengel deine Mauer umkreiste und sein
Wehe über dich rief, wo die Thränen Jesu um dich zu Blut-
und Feuerströmen wurden, die der siegende Römer mit den Rui¬
nen deines Tempels und den Leichnamen deiner Kinder dämpfte.
Nach Hackländer.
') Vergl. S. 89. Anmerk.