Aus dem Naturleben.
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173. Der Zeisig und -ie Nachtigall.
Ein Zeisig war's und eine Nachtigall,
die einst zu gleicher Zeit vor Dämons Fenster hingen.
Die Nachtigall fing an, ihr göttlich Lied zu singen,
und Dämons kleinem Sohn gefiel der sütze Schall.
6 „Ach, welcher singt von beiden doch so schön?
Den Vogel möcht' ich wirklich sehn!"
Der Vater macht ihm diese Freude,
er nimmt die Vögel gleich herein.
„Hier," spricht er, „sind sie alle beide;
io doch welcher wird der schöne Sänger sein?
Getraust du dich, mir das zu sagen?"
Der Sohn läßt sich nicht zweimal fragen;
schnell weist er auf den Zeisig hin.
„Der," spricht er, „mutz es sein, so wahr ich ehrlich bin.
u Wie schön und gelb ist sein Gefieder!
Drum singt er auch so schöne Lieder;
dem andern sieht man's gleich an seinen Federn an,
datz er nichts kluges singen kann."
Christian Fürchtegolt Geliert.
174. Der Rangstreit der Tiere.
1. Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. „Ihn
zu schlichten," sprach das Pferd, „lasset uns den Menschen zu Rate
ziehen; er ist keiner von den streitenden Teilen und kann desto un¬
parteiischer sein." — „Aber hat er auch den Verstand dazu?" lieh
sich ein Maulwurf hören; „er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere
oft tief versteckten Vollkommenheiten zu erkennen." — „Das war sehr
weislich erinnert!" sprach der Hamster. — „Jawohl," rief auch der
Igel, „ich glaube es nimmermehr, datz der Mensch Scharfsichtigkeit
genug besitzt." — „Schweigt ihr!" befahl das Pferd. „Wir wissen
es schon: wer sich auf die Güte seiner Sache am wenigsten zu ver¬
lassen hat, ist immer am fertigsten, die Einsicht seines Richters ln Zweifel
zu ziehen.?'
2. Der Mensch ward Richter. „Noch ein Wort," rief ihm der
majestätische Löwe zu, „bevor du den Ausspruch tust. Nach welcher Regel,