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206 Märchen, Erzählungen, Sagen, Fabeln und Parabeln.
Nun will ich erst singen, wie es geschah:
Der Blinde zuerst den Lasen sah
im Feld geschwind hertraben.
Der Stumme rief dem Lahmen zu,
da faßt' ihn der beim Kragen.
Es segelten etliche über Land,
die Segel hatten sie in den Wind gespannt
und segelten auf den Feldern.
Sie segelten auf einen hohen Berg;
da ertranken sie all in den Wäldern.
Es ging ein Krebs auf die Lasenjagd;
die Wahrheit kommt heraus mit Macht
und bleibt nicht lang verschwiegen.
Es lag eine Kuhhaut auf dem Dach,
die war da hinaufgestiegen.
Liermit will ich mein Lied beschließen,
sollt' es die Leute gleich verdrießen,
und will nicht länger lügen;
in meinem Land sind die Fliegen so groß
als Hierzuland die Ziegen.
Aus Franz Magnus Böhme: „Deutsches Kinderlieb".
98. Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und
gescheit und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war
dumm, konnte nichts begreifen und lernen, und wenn ihn die Leute
sahen, sprachen sie: „Mit dem wird der Vater seine Last haben!"
Wenn nun etwas zu tun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten;
hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen
und der Weg ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen
Ort, so antwortete er wohl: „Ach, Vater, es gruselt mir!" denn er
fürchtete sich. Oder wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt
wurden, wobei einem die Laut schaudert, so sprachen die Zuhörer
manchmal: „Ach, es gruselt mir!" Der jüngste saß in einer Ecke und
hörte das mit an und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte.
„Immer sagen sie: ,Es gruselt mir! es gruselt mir!' mir gruselt's nicht;
das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe."