Object: Fünfzehn Jahrhunderte (Bd. 2, Abth. 1)

Warnecke: Die Baustile. 
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Wie im allgemeinen den Renaissancemenschen die völlige Wiederher¬ 
stellung der griechisch-römischen Kultur als Ideal vorschwebte, so glaubten 
auch die Architekten zunächst an eine mögliche Wiedergeburt der griechischen 
Bauweise. Dieser schöne Traum mußte bald verschwinden vor den neuen 
Bauaufgaben, die die Zeit aus den ihr eigenen Bedürfnissen heraus stellte 
und für welche die Antike keine unbedingten Vorbilder gewährte. In Wirk¬ 
lichkeit sind denn auch die großen Reuaissancekünstler in der Komposition 
völlig selbständig gewesen; gerade wie den Gotikern in Italien war auch 
ihnen die rhythmische Schönheit der Linien, Flächen und Räume das Haupt¬ 
prinzip. Nur in der Ausdrucksweise int einzelnen, in der Bildung der 
Glieder des baulichen Organismus wechselteit sie, indem sie statt der spitz- 
bogigen Formen und Dekoratiousmotive, die sie mit dem Namen „gotisch" 
als eine Barbarenkunst bezeichnen wollten, die Schätze der gefeierten Antike, 
und zwar der römischen Antike entlehnten; von alter griechischer Baukunst 
ist keinem von ihnen etwas zu Gesicht gekommen. Es liegt in den Idealen 
der Reuaissaucezeit, die für den einzelnen Menschen die Ausbildung der 
Persönlichkeit zur höchstmöglichen Vollkommenheit anstrebte, begründet, daß 
auch auf die harmonische Gestaltung des ganzen äußeren Daseins der höchste 
Wert gelegt wurde. Hier konnte der neue Stil seine vollen Kräfte entfalten, 
indem er allen Bedürfnissen eines geistig hochbedeutenden Kulturlebens auch 
bei nichtkirchlichen Aufgaben gerecht zu werden versuchte; erst in der 
Renaissance ist ein eigentlicher Profanstil, ein Palaststil geboren. Aus den¬ 
selben Ursachen erklärt es sich, daß jetzt viel mehr als in früberen Zeiten 
einzelne große Meister die Hauptschritte der Entwicklung gemacht haben. 
Der Renaissancestil gliedert sich in zwei Epochen. Die erste, die der 
Frührenaissance, umfaßt ungefähr das 15. Jahrhundert, das Quattrocento. 
Es ist die jugeudfrische Zeit des Sucheus und Strebens, wo noch vielfach 
mittelalterliche Formen mit den antiken sich mischen, voll von Phantasie, 
die in einer oft überschwenglichen Dekorationslust ihr Genüge findet. 
Der erste große Genius ist Brunellesco von Florenz (1377—1446). 
Von Bewunderung erfüllt für die Kuppel des Pantheon, kehrte er von Rom, 
wo er emsig die alten Ruinen durchforscht hatte, in seine Heimat zurück 
und baute hier als sein erstes großes Werk die Kuppel des Doms, 
das erhabene Wahrzeichen von Florenz. Ein achteckiger sogenannter Tam¬ 
bour vermittelt zwischen dem gotischen Bau und der Wölbung, die noch die 
steilere Form einer Spitzkuppel zeigt. Mit dem turmartigeu Aufsatz, der 
von Fenstern durchbrochenen Laterne, steigt der Bau noch über die Höhe 
des gotischen Glockenturmes empor, den hundert Jahre früher Giotto ge¬ 
schaffen hatte. So sehr die Domkuppel als größtes technisches Meisterwerk 
alles bisher Geleistete überbot, bedeutet sie doch wenig für das eigentliche 
Deutsches Lesebuch, Prima. 21
	        
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