238 II- Die Zeit neuer Staatenbildungen.
aller freien Ueberzeugung und Aeußerung. Kein Concil
war je unfreier von feinem Anfang an; und die uner¬
hört gewaltthätige Geschäftsordnung wurde im Fortgang
noch beständig verschärft, damit ja keine Debatte stattfinde
und die Verhandlungen wie nie zuvor in ein undurch¬
dringliches Geheimniß gehüllt bleiben. Noch in Trient
hieß es: die Synode beschließt; diesmal aber im Vati¬
kan: der Papst befiehlt unter Zustimmung des Concils.
Und doch erscholl selbst dieser, alles Sprechen und Hören
erschwerende Saal von mancher freien unmißverständlichen
Rede, die allem Verbot zum Trotz weit hinausgetragen
wurde. Der Kroate Stroßmayer brachte seinen Ge¬
danken vor, wie Papstthum und Kardinalskollegium uni-
versalifirt, d. H. auch Nichtitalienern zugänglich gemacht
werden sollten, weil die übertriebene Centralisation das
Leben der Kirche ersticke. Er vertheidigte die Protestanten
gegen die Behauptung, daß alle grundstürzenden Irrthümer
von ihnen ausgehen, und bewirkte, daß ihre Lehre nicht
in einem Athem mit Atheismus und Materialismus als
„gottlose Pest" bezeichnet wurde. Die meisten deutschen,
östreichischen, ungarischen, französischen Bischöfe, dazu viele
Italiener, Portugiesen, Nordamerikaner gehörten znr Op¬
position; während die Mehrzahl der Versammlung die
kleinere Hälfte der katholischen Welt vertrat. Aber im
ganzen Verlauf bewahrheitete sich, was Pio einmal lä¬
chelnd bemerkte: .„die erste Zeit eines Concils gehört dem
Teufel, die zweite den Menschen, die dritte dem heiligen
Geist" (d. h. dem Papste).
Die theologisch gebildete Minderheit war von An¬
fang an gespalten, wie denn hier das alte Lob der katho¬
lischen Einigkeit vor den Kämpfen, die jeder Tag brachte,
in Nichts zerstob. Im Grunde traute doch keiner dem
andern, und keinem war es ein rechter Emst. Jeder
wollte auch dem Papst gefallen, daher viele ihn versicher¬
ten, sie glauben an feine Unfehlbarkeit, nur halten sie die
Lehre nicht für opportun (zeitgemäß). 400 Bischöfe baten
schon 22. Jan. 70 um die Dogmatisirung dieser Lehre,