388
Helvetica oder die Schweiz.
Ewige konnte diese Berge gründen, die so vielen uns unbekannt
ten Jahrtausenden getrotzt haben, und die vielleicht nicht eher, als
mit dem Ende der Zeiten, oder der Umformung aller vergängli;
chen Dinge aufhören werden? Als wir die Jungfrau zuerst cm;
sahen, war noch fast ihr ganzer Körper, so weit er nur mit dem
zum Theil sich erneuernden Schnecmantel angethan ist, von der
Abendsonne erleuchtet, die aber bald ihren goldnen Schmuck zu;
rückzog, und nur allein ihr jungfräuliches Antlitz röthete. Einen
erhabnern und zugleich schönern Berg, als die Jungfrau ist, giebt
es, glaube ich, auf der ganzen Erde nicht. Schön nenne ich die
Jungfrau vorzüglich deswegen, weil man in allen ihren vom
Thale aus sichtbaren Theilen nicht daS geringste Mißverhältniß
bemerkt, und nirgends etwaS hervorsticht, was bloß Grauen und
Entsetzen erregte, oder sonst unangenehme Empfindungen oder Bil;
der erweckte. Man sieht nirgends gräßliche Schründe oder kahle
abgeschnittene Felswände, die Denkmäler und Erinnerungen vor;
maliger großer Verwüstungen sind, und zugleich daran erinnern,
daß das, was jetzt so fest steht, dereinst auch wanken und fallen
könne. Der ganze Berg, wie man ihn aus dem Standpunkte
wahrnimmt, den ich nahm, scheint noch eben so unversehrt, und
in eben das Gewand eingehüllt zu seyn, womit die Natur ihn
bald nach seiner Entstehung bekleidete. Diese Vorstellung verliert
man, wenn man über den Fuß der Jungfrau von Lauterbrunncn
nach dem Grindelwalde geht, wie ich anfangs zu thun die Absicht
hatte; denn alsdann sieht man die fürchterlichen Schründe und
Felswände; auch hört man Las Krachen der Lauwinen, die nie;
mals fallen, ohne die Felsmasse, die sie trug, zu verwunden,
und große Bruchstücke in die sich öffnenden Abgründe hinunter zu
reißen. Es bleibt aber doch immer wahr, daß die Jungfrau in
der Nähe sowohl, als in der Ferne weniger zerrissen scheint, und
viel ununterbrochener und tiefer mit Schnee bedeckt ist, als die
übrigen Schueeberge im bernifchen Oberlandc."
„Wegen der sanften Abendluft aßen wir nicht im Hause
selbst, sondern auf der Gallerie vor dem Hause, wo man das
Plätschern des Staubbachs, und das Rauschen der Lütschine be,
ständig hören kann. Nach Tische gingen wir wieder auf den
Staubbach zu, um ihn in der Nähe beim Mondschein zu betrach;
ten. Als wir uns demselben näherten, stieg die Göttin der Nacht
eben über die Jungfrau herauf, die in dem bescheidneren und
weißlichen Schimmer des Mondes nicht weniger majestätisch, als
in dem lebhafteren Glanze der Abendsonne war. Dem bloßen
Anscheine nach, war es von der Spitze der Jungfrau bis zum
Monde, der auf ihrem Haupte zu ruhen schien, nicht so weit,
als aus dem Thale auf den Gipfel des Jungfraubergs. Als Lee
Mond so hoch herauf kam, daß er den Staubbach erleuchten
konnte, so wurden wir auf einmal durch das prächtigste und