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Vaterländische Sagen.
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at sie an ihn die verbotene Frage. Der Ritter erschrak gewaltig und
sprach: „Nun hast du selbst unser Glück zerbrochen und mich am längsten
zesehen.“ Die Herzogin bereute es, aber zu spät. Der Held waffnete
ich, und der Schwan kam mit demselben Schifflein wieder daherge—
chwommen. Darauf küßte er beide Kinder, nahm Abschied von seinem
Gemahl und segnete das ganze Volk. Dann trat er in das Schiff
uhr seine Straße und kehrte nimmer wieder.
Der Frau ging der Kummer zu Bein und Herzen; doch zog sie
fleißig ihre Kinder auf. Von diesen stammen viele edle Geschlechter,
ie von Geldern sowohl als von Kleve und viele andere Grafen und
Herren; alle führen den Schwan im Wappen.
92. (100.) Siegfried.
1. Wie Siegfried hörnen ward.
G. Schwab, Deutsche Volksbücher.
Siegfried war der Sohn des Königs Siegmund von Niederland,
der seinen Sitz zu Xanten am Niederrhein hatte. Schon als Knabe
übertraf er manchen Mann durch seine gewaltige Körperkraft, und des—
halb sehnte er sich danach, in fremde Lande zu ziehen und in ritterlicher
Weise Abenteuer zu bestehen. Ohne Urlaub ging er eines Tages davon.
Bald kam er zu einem berühmten Schmiede mit Namen Mimer, dem
viele Gesellen dienten. Diesen bat er, ihn zu lehren, wie man ein
Schwert schmiede. Da der Knabe so stark war, gefiel er dem Meister
wohl; er versprach es ihm, wenn er ihm eine Zeitlang als Lehrling
dienen wollte. Aber Siegfried schlug Hammer und Eisen entzwei und
trieb den Amboß in die Erde. Da fürchtete sich Mimer vor dem un—
gefügen Gesellen und sann darauf, wie er sich seiner wieder entledigen
könnte. Nahe bei der Schmiede lag aber ein Wald, in dem ein ge—
waltiger Lindwurm hauste. Dahin schickte Mimer den Siegfried, daß
er ihm Kohlen brenne, und hoffte, daß jenes Untier des Helden Ver—
derben sein möchte. Siegfried tat, wie ihm geheißen war, ging in den
Wald, hieb starke Bäume um und machte ein großes Feuer. Wie nun
die Flammen in rechter Glut loderten und Siegfried ruhig dabei saß,
da kam plötzlich der Lindwurm auf ihn los. Schnell sprang er auf,
packte den stärksten Baum, der im Feuer lag, traf den Wurm damit
aufs Haupt und schlug so lange, bis er tot war. Durch die Hitze des
Feuers begann die Hornhaut des Tieres zu schmelzen, sodaß sie wie ein
Bächlein dahinfloß. Neugierig tauchte Siegfried einen Finger hinein,
und da dieser erkaltet war, hatte ihn eine undurchdringliche Hornhaut
überzogen. Da badete Siegfried seinen ganzen Leib in der flüssigen
Masse, ward also hörnen und für jede Waffe unverletzlich; nur zwischen
den Schultern, wohin ihm beim Baden ein Lindenblatt gefallen war,
blieb eine verwundbare Stelle. Nun kehrte Siegfried zur Schmiede