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tiefe Wunde, und es gelang ihm, beide Helden zu feffeln und vor
Kriemhild zu führen. Nun hatte sie ihre beiden Todfeinde in
der Gewalt, und ihre Augen erglänzten in schrecklicher Freude.
Dietrich aber sprach: „Nie find einem Könige bessere Helden als
Gefangene übergeben worden. Seid ihnen gnädig gesinnt und
vergeht euren Zorn!" Die Königin versprach es; dann wandte
Dietrich ihr den Rückeu und ging mit Tränen in den Augen
davon. Die Königin hielt aber übel Wort. Nachdem sie Hagen
und Günther je in ein besonderes Gefängnis hatte führen lassen,
ging sie zu Hageu und sprach: „Wollt ihr mir den Nibelungen¬
hort wiedergeben, den ihr mir geraubt habt, so will ich euch frei
lassen, daß ihr zu den Burgundeu zurückkehren könnt''. Aber
Hagen antwortete: „Eure Worte sind umsonst. Ich habe geschworen,
den Hort niemand zu zeigen. So lange einer meiner Herren
lebt, erhält ihn niemand." Da wurde Kriemhild wütend und
sagte: „So will ich der Sache ein Ende machen". Sie ließ dem
König, ihrem Bruder, das Haupt abschlagen, trug es zu Hagen
und forderte nun den Schatz von ihm. Als Hagen das Haupt
feines Herren sah, ward er sehr traurig; doch trotzig sprach er:
„Nun ist es ja zum Ende gebracht, wie dn gewollt; nun ist es
so ergangen, wie ich mir selbst gedacht. Nun ist tot der edle
König Günther, Gieselher und auch Gernot. Deu Schatz weiß
min niemand, als Gott und ich allein. Dir aber, Teufelin, soll
er ewig verhohlen sein!" Da ruft Kriemhild: „Und soll ich Sieg¬
frieds Schatz nicht haben, so blieb mir wenigstens sein Schwert!"
Sie reißt es ans der Scheide — und Hagens Haupt rollt ihr
vor die Füße. „Weh", rief da König Etzel, „hier ist von eines
Weibes Händen der beste Held erschlagen. Wie feind er mir
auch war, um solches Schicksal muß ich ihn beklagen." „Es soll
ihr übel bekommen", sprach darauf Hildebrand, der Waffenmeister
Dietrichs von Bern, „obgleich dieser Held auch mich in große
Not gebracht hat, so will ich doch seinen Tod rächen, möge mir
geschehen, was da will". Er sprang auf Kriemhild los und, von
seinem Schwert getroffen, sank sie mit einem schrecklichen Schrei
neben den Leichnam Hagens nieder. Etzel und Dietrich standen
bei den Leichen und weinten. So endete das Fest. Im Lande
der Hunnen und Burgundeu aber war lange Zeit Trauer, Weh¬
klagen und Leid um die vielen Helden, die durch Kriemhilds grau¬
same Rache den Tod gefunden hatten.
II. Denken.
A. Zur sachlichen Vertiefung und Vergleichung.
1) Etzel, der Hunnenkönig, auch Attila genannt, wohnte int
fernen Ungarlande an der Donau. Aussehen! Ihm ge¬
horchten viele Völker und Fürsten.