fullscreen: Auswahl aus der deutschen Dichtung in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Teil 4a = Erg.-Bd. (Poesie))

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9. Doch es lassen sich die Wellen 
Nicht wie Tiere des Waldes fällen, 
Und nicht half der Mutter Klagen, 
Als sie den Kahn sah umgeschlagen. 
10. Wie sie nun in langem Harme 
Breitet' ihre beiden Arme 
Bei den Wellen, den schaumesbleichen, 
Über ihrer Kinder Leichen, 
11. Mußte sie der Mütter gedenken, 
Die noch können schaun versenken 
In den schnell empörten Wogen 
Söhne, die sie sich erzogen. 
12. Und es werden im Mutterherzen 
Leichter ihr die bittern Schmerzen, 
Wenn sie andern kann ersparen 
Solches Leid, wie sie's erfahren. 
13. Und noch ehe sie ausgetrauert, 
Ward gemeißelt und gemauert, 
Ward der Strom ins Bett gezwänget 
Und die hohe Brücke gesprenget. 
14. Sah sie dann oft fröhliche Knaben 
Über den Pfad von Steine traben, 
Und die schäumenden Wasser höhnen, 
Die in felsiger Tiefe tönen, 
15. Und mit leichtem Tritte wallen 
Mütter hinter den Kindern allen: 
Sieh, da flössen ihre Tränen 
Mild von Freude, mild von Sehnen. 
16. Und ihr Werk, das fromme, dauert, 
Aber sie hat ausgetrauert, 
Höret die Wasser nicht mehr toben, 
Ist bei den jungen Söhnen droben. 
Ir) jfusttnus Kernen 
Lesebuch II, Nr. 83: Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe. II, Nr. 85 und G. S., 
Nr. 92: Der reichste Fürst. II, Nr. 266: Wanderlied. — Lesebuch III, Nr. 27 
und G. S., Nr. 91: Der Wanderer in der Sägemühle. 
Dichtungen von Justinus Kerner. Stuttgart. 1834. Cotta. 
Zu Ludwigsburg 1786 geboren, studierte Kerner in Tübingen Medizin, schloß 
Freundschaft mit Uhland und anderen schwäbischen Dichtern, war Arzt in Wildbad und 
später zu Weinsberg, erblindete zuletzt und starb 1862. 
i. Oie schwäbische Dichterschule. 
„Wohin soll den Fuß ich lenken, ich, ein fremder Wandersmann, 
Daß ich eure Dichterschule, gute Schwaben, finden kann?" 
Fremder Wanderer! o gerne will ich solches sagen dir: 
Geh durch diese lichten Matten in das dunkle Waldrevier, 
5 Wo die Tanne steht, die hohe, die als Mast einst schifft durchs Meer; 
Wo von Zweig zu Zweig sich schwinget singend lust'ger Vögel Heer; 
Wo das Reh mit klaren Augen aus dem dunkeln Dickicht sieht 
Und der Hirsch, der schlanke, setzet über Felsen von Granit; 
Trete dann aus Waldes Dunkel, wo im goldnen Sonnenstrahl 
10 Grüßen Berge dich voll Reben, Neckars Blau im tiefen Tal; 
Wo ein goldnes Meer von Ähren durch die Ebnen wogt und wallt, 
Drüber in den blauen Lüften Jubelruf der Lerche schallt; 
Wo der Winzer, wo der Schnitter singt ein Lied durch Berg und Flur: 
Da ist schwäb'scher Dichter Schule, und ihr Meister heißt — Natur!
	        
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