Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

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50. Barmherzigkeit russischer Soldaten im 
Jahre 18312. 
Der Zug Napoleons nach Moskau und die entsetzliche Nieder— 
lage nach dem Brande dieser herrlichen Stadt, das Clend und der 
maßlose Jammer auf dem Rückzuge aus Rußland ist zu schrecklich, 
als daß man gerne davon reden möchte; aber ein edler Zug russischer 
Soldaten gegen den verhungerten Feind verdient gerade unter den 
schauderhaften Erscheinungen jener Tage um so mehr hervorgehoben 
zu werden, als sie leider so reich sind an Zügen von Härte, Grau— 
samkeit und liebloser Selbstsucht. 
Es war an einem der nordisch-kalten Tage, da der schneidende 
Wind über die Schneedecke der Gegend pfiff, durch welche Napoleons 
unglückliches Heer seinen Rückzug nahm, als General Fürst Wittgen— 
stein ein siegreiches Gefecht mit einem Heerhaufen ausgehungerter 
Franzosen von weit überlegener Zahl bestanden hatte 
Der Feind war geflohen. Große Haufen Gefangener waren 
zusammengebracht worden, reiche Artillerie und Gerätewagen in die 
Haͤnde der Russen gefallen. Die vom Kampfe müden russischen 
Soldaten suchten sich Lagerplätze, die vor dem schneidenden Nordoste 
geschützt waren. Die Feuer loderten auf, und die Kessel mit der 
Hafergrütze kochten lustig eine nährende Mahlzeit verheißend. Endlich 
wurden sie abgesetzt, und kompagnieweise traten die Hungrigen zu— 
sammen, sich zu laben. 
Da wurde bei einer Kompagnie, die eben zulangen wollte, ein 
Trupp Gefangener vorübergeführt. Es waren Jammergestalten, aus 
deren hohlaugigen Gesichtern der gräßliche Hunger heraussah. Kaum 
waren sie fähig zu gehen. Viele blickten gierig nach den dampfenden 
Kesseln, andere streckten flehend die Hände aus gegen die Glücklichen, 
die Speise hatten. Mit unaussprechlichem Verlangen sogen die Ver— 
hungernden den Geruch ein, den die obwohl rauhe, aber doch so kräftige 
Nahrung der Russen aushauchte. Kläglich riefen sie: Seit mehreren 
Tagen hat kein Bissen Nahrung uns erquickt! 
Die Russen blickten sie ohne Haß an; ja das Mitleid zog in 
ihre gutmütigen Herzen ein. Da stand ein alter, bärtiger Unter— 
offizier auf und sprach zu seinen Kriegsgefährten: „Kameraden, im 
Feuer sind sie unsere Feinde; da sollen wir unsere Pflicht thun und 
haben sie ehrlich heute gethan, das dürfen wir vor Gott sagen: aber 
jetzt sind sie es nicht mehr. Sehet einmal die armen Hungernden 
an! Kaum tragen sie ihre Füße. Ehe sie ins Quartier kommen, 
liegt die Hälfte verhungert auf dem Felde. Es sind doch Menschen 
wie wir, und wir wissen, wie sie Napoleon hieher geschleppt hat, 
von Vater und Mutter, von Freunden und Heimat weggerissen 
Wahrlich, wenn es von ihnen abgehangen hätte, kein einziger wäre 
nach Rußland gekommen, am wenigsten als Feind Was einzelne
	        
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