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II. Periode.
denen in den Schulen Lesen und Schreiben gelernt wurde, die
allen in Fleisch und Blut übergingen: der Ilias und Odyssee
(vgl. S. 19). Seit aber Friedrich August Wolf (1759—1824)
in seinen prolegomena ad Homerum 1795 die Frage aufwarf, ob
zu Homers Zeiten schon die Schreibkunst üblich gewesen sei und
ob ohne dieselbe ein Dichter so umfassende "Werke überhaupt
habe abfassen können, ist der Streit entbrannt, ob wir beide Ge¬
dichte oder auch nur eines derselben in der That auf einen ein¬
zigen Dichter zurückführen dürfen oder ob anzunehmen sei, dafs
die Gedichte erst später aus einzelnen Heldenliedern zusammen¬
gefügt worden seien (Liedertheorie); doch neigt sich die Meinung
der Kenner mehr und mehr auf die erste Seite, in der Weise,
dafs wenigstens der Kern der Ilias von Homer herrühre und
ebenso die Odyssee in ihren wesentlichen Partieen aus einem
Gusse, wenn auch vielleicht durch einen späteren Dichter, ge¬
schaffen worden sei; die Ansicht, als ob es einen Homer über¬
haupt nie gegeben habe, dürfte wenige namhafte Vertreter mehr
haben.
c. Aus Homers Gesängen läfst sich ein farbenreiches Bild
entwerfen, nicht zwar derjenigen Zeit, welche sie zum Inhalte
haben, der heroischen, aber doch derjenigen, in welcher der
Dichter lebte und deren Zustände er mit einer bei allen volks¬
tümlichen Dichtern und Künstlern beobachteten Naivetät auf die
von ihm besungene eit überträgt. An der Spitze des Staates
stehen die „zeusentsprossenen“, „zeusgenährten“ Könige, denen
es zukommt das \ olk im Frieden mit Gerechtigkeit zu richten
und zu lenken, die Gnade der Götter durch reichliche Opfer, oft
von hundert Stieren zumal (Hekatomben) zu erhalten und im
Krieg mit tapfrer Hand die Marken des Vaterlandes zu schirmen.
Neben ihnen steht ein reisiger Adel (Gerönten, Anäkten, Me-
dönten genannt), welcher ihre Mahle teilt, mit ihnen im Waffen¬
spiele sich übt und ihren Rat bildet, während die Volks¬
gemeinde zwar berufen wird, wenn wichtige Dinge vorliegen,
aber in der Regel nur um den Willen des Fürsten und seiner
Ritterschaft anzuhören und darnach sich zu halten; die wirkliche
Entscheidung wird dem „Demos“ nur selten anheim gegeben.
Ackerbau, Jagd, Fischfang, auch Gewerbfleifs nähren das Volk;
kostbare Gefafse, Gewänder und Teppiche bringen die „sidonischen
Männer“, die Phönikier; doch bauen wohl die Könige selbst mit
der Axt ihr Haus, ihre Töchter waschen selbst Kleider und