Full text: Das Neunzehnte Jahrhundert (Bd. 3)

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Leute ins Volkshaus zu wählen. Aber diese Gegner des allgemeinen 
Wahlrechts konnten sich nicht über einen Gegenantrag verständigen 
und so unterlagen sie. 
Die Gesetzgebung sollte also geteilt sein zwischen dem Reichs¬ 
oberhaupt, dem Staatenhaus und dem Volkshaus. Wenn nun aber 
die Reichsregierung sich weigerte, einen Beschluss, den die beiden 
Häuser gefasst hatten, als Gesetz einzuführen — welche Bestimmung 
sollte dann gelten ? sollte dem Reichsoberhaupt nur ein auf¬ 
schiebendes oder sollte ihm ein unbeschränktes Einspruchsrecht 
zustehen? Man entschied sich für das erstere. Wenn in 3 un¬ 
mittelbar aufeinanderfolgenden Sitzungsperioden beide Häuser 
denselben Beschluss unverändert fassen würden, dann sollte dieser 
Beschluss Gesetzeskraft erhalten, auch wenn die Reichsregierung bis 
dahin nicht zugestimmt hätte. 
So lag nach der neuen Verfassung die Macht in den Händen 
des Volkes. Allerdings hatten die Fürsten einen Teil der Mitglieder 
des Staatenhauses zu ernennen-, doch damit erlangten sie nur ge¬ 
ringen Einfluss auf die Gesetzgebung, weil die Gewählten, wenn sie 
ihre Stimmen abgaben, völlig selbständig verfahren durften. An 
der Reichsregierung hatten die einzelnen Fürsten gar keinen Anteil. 
Für sie war in dem neuen Reiche ebenso wenig Raum, wie im alten 
für eine gemeinsame Volksvertretung. 
Am meisten Schwierigkeiten machten, nachdem die Verfassung 
soweit fertiggestellt war, die ferneren Beratungen über das Reichs¬ 
oberhaupt. Dieselben Parteien, welche sich damals bekämpft hatten, 
als es sich um die vorläufige Centralgewalt handelte, standen sich 
auch jetzt gegenüber. Die äusserste Linke verlangte, dass man eine 
Präsidentschaft einrichte und dass jeder volljährige Deutsche Anspruch 
auf dieses Amt erheben dürfe. Die äusserste Rechte verlangte nur 
eine zeitgemässe Umgestaltung des Bundestags. Dazwischen lag 
eine bunte Reihe vermittelnder Vorschläge. Endlich wurde fest¬ 
gesetzt, dass die Würde des Reichsoberhauptes einem der regierenden 
Fürsten erblich zu übertragen sei und dieser den Titel Kaiser der 
Deutschen führen solle. 
Ausgang. 
Für die Wahl kamen von allen regierenden Fürsten nur zwei 
in Frage; denn sie waren weitaus die mächtigsten, der König von 
Preussen und der Kaiser von Österreich. Aber die National¬ 
versammlung wollte die ausserdeutschen Länder Österreichs nicht 
in das neue deutsche Reich aufnehmen, da ein Völkergemisch 
unmöglich einen gesunden Staat bilden könne. Entweder sollten 
die nichtdeutschen Länder Österreichs mit seinen deutschen Ländern 
hinfort nur in Personalunion verbunden sein und letztere allein dem 
neuen Reiche beitreten — oder Österreich sollte als ein Ganzes 
bestehen bleiben und sich vollständig vom deutschen Bundesstaate 
ablösen. Die Verteidiger jener Ansicht nannten sich Grossdeutsche, 
die andere Partei zog sich den Namen der Kleindeutschen zu.
	        
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