Das Gedächtniß.
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da« Gedächtniss. Allein während er von jenem Lande
nacherzählte, stellte er sich auch zugleich die Berge, Wäl¬
der u. s. w. vor, daher war auch seine Einbildungskraft thä¬
tig; weniger geschah dieses, wenn er von der Lebensweise
der Menschen sprach. Daran ist zu erkennen, wie sich Ein¬
bildungskraft und Gedächtniss von einander unterscheiden.
Das Gedächtniss bewahrt nämlich die erhaltene
Vorstellung auf, die Einbildungskraft erneuert sie. Jenes
erstreckt sich auf alles, was man gelernt und erfahren hat,
die Einbildungskraft grösstenteils nur auf sinnliche Wahrneh¬
mungen, oder die, welche der Seele in einem Bilde vorschwe¬
ben können.
Das Gedächtniss ist eine überaus wichtige Kraft der
Seele. Was würde es uns helfen, noch so viele Kenntnisse
gesammelt zu haben, wenn sie bald wieder verschwänden.
Der Schöpfer sorgte weislich dafür, dass das Erworbene
aufbewahrt und zum Gebrauch beliebig herbeigeschafft wer¬
den kann. Jeder gesunde Mensch besitzt diese Seelenkraft.
Indessen nimmt man doch eine grosse V erschiedenheit des
Gedächtnisses wahr. Es ist schnell oder langsam, je
nachdem es etwas bald oder spät fasset; treu oder untreu,
je nachdem es sich leicht oder schwer auf etwas besinnet;
dauerhaft oder kurz, je nachdem es etwas lange oder
kurze Zeit behält. Im letztem Falle ist der Mensch vergess¬
lich. Selten sind alle V ollkommenheiten des Gedächtnisses
vereinigt. Mancher Mensch fasst schnell und vergisst schnell;
mancher fasst langsam, behält aber das Gefasste lange. Bei
einzelnen Menschen findet sich ein ausserordentliches Ge¬
dächtniss. Der Italiener Mirandola soll im Stande gewesen
sein, 1000 Wörter, die man ihm nur einmal vorgelesen, in
derselben Ordnung auswendig zu wiederholen. Der be¬
rühmte Leibnitz konnte noch in seinem hohen Alter ein
lateinisches Buch von Wort zu Wort hersagen. Der persische
König Cyrus soll die Namen aller seiner Soldaten gewusst
haben.
Ein Mädchen lernte mit Leichtigkeit lange Gedichte und
behielt auch gut die Namen der vorgezeigten Pflanzen sowie
die der Gebirge, Flüsse, Städte und Länder auf der Karte;
welch eine Lehre jedoch in dem Gedichte enthalten war, wie
die Pflanzen, die unlängst vorgezeigt wurden, aussahen,
welche Richtung die Flüsse in ihrem Laufe nehmen und wo
die Städte liegen, davon wusste sie wenig. Ihr Bruder zeigte
wiederum das Gegentheil; er verlor oft die Namen der abge¬
handelten Naturgegenstände, war aber im Stande, sie richtig