130. Die Insel Rügen. 
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Volks-Charakter dieser Insulaner zugleich wieder in den Hauptzügcn 
auf's straffste zusammengehalten und in sich abgeschlossen. Diese dop¬ 
pelseitige Natur macht das Eiland zu einem ethnologischen Beobach¬ 
tungspunkte, der wohl ohne Gleichen in Deutschland ist. 
Die Bewohner Rügens sind geographisch so streng gegliedert, daß 
sie in der gemeinen Redeweise ihre Insel gar nicht einmal als ein ein¬ 
heitliches Ganze gelten lassen. Von den Halbinseln Wittow, Iasmund, 
Mönchgut, Zudar spricht man hier, als ob das lauter selbständige 
Länder seien. Rügen ist nur die Bezeichnung für einen kleinen Theil, 
und wollte man den Nanicn für die ganze Insel gebrauchen, so würde 
der gemeine Mann aus dieser geographischen Abstraction so wenig klug 
werden, wie andere Leute aus der Abstraction eines Gesammt-Dentsch- 
lands. 
Der Verkehr zwischen den einzelnen Halbinseln ist erstaunlich ge¬ 
ring, und ans den beiden verbindenden großen Isthmen, der „Schabe" 
und der „finalen Haide", hört fast alle Cultur ans. Man kann hier 
den ganzen Tag auf sogenannten Straßen bis über die Knöchel im 
Dünensand und Geröll waten, ohne einer sterblichen Seele zu begegnen. 
Wie in den Hochalpcn ein Felsrücken, ein Gletscher zwei nachbarliche 
Thäter gleich als zwei ferne Welten von einander abscheidet, so halten 
hier die Landengen die selbständigen Gestaltungen des Volkslebens aus¬ 
einander. Jede Halbinsel hat ihre besondere Schattirnng des Dialekts, 
Mönchgut namentlich seine ganz originelle Sprache. Hier herrscht auch 
eine besondere Volkstracht, während sich sonst überall an der Ostsee bei dein 
außerdem so zäh beharrenden Volke nur kümmerliche Reste der alten 
Trachten erhalten haben. Die Leute in diesen Landen haben wenig 
Sinn für künstlerische Formen und Farben. Frisia non cantat, sagt 
man auch auf der andern Seite der schleswig-dänischen Landzunge. 
Charakteristisch für den färb- und klanglosen Norden ist bei der Fi- 
schertracht auf Mönchgut, daß das Auszeichnende beim Kleide der Män¬ 
ner nur im Schnitt, nicht in der Farbe liegt, die als ein wahres 
sans-couleur, als ein abscheuliches Gemisch von Schmutzbraun und 
Theerbraun sich darstellt. Nur die Frauen tragen noch derbe reine 
Farben an Rock und Mieder. Die Mönchgnter haben anderes Her¬ 
kommen als die Leute von Iasmund, von Wittow. So herrscht l}tei* 
übcrall das eigensinnigste Sonderthum, aber das Volksleben fällt da¬ 
rum doch nicht auseinander, wie im Binnenland. Das würde nur 
dann möglich gewesen sein, wenn dieses so reich individualisirtc Land 
nicht eine Insel wäre, und zwar eine Insel im Meer. 
Was dieser bunte, unruhige Wechsel von Berg und Thal, Feld 
und Wald, Haideland, Dünenland, Snmpfland, Fclsland, in der Na¬ 
tur der Eingebornen zersplittern mochte, das hielt das ringsum flutende 
Meer wieder mit starkem Arm zusammen. Das Meer ist die oberste 
social erhaltende Macht für Rügen. Im Großen wiederholt sich die 
gleiche Erscheinung bei den britischen Inseln. Das Meer hält Nord- 
deutschland zusamnten, wie die Hochgebirge den deutschen Süden. Auf
	        
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