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Amerika.
diese stark genug sind, um allein gehen zu können, und bringen ihre
ganze Zeit damit zu, sie zu warten und zu füttern; die Vater machen
ihnen Spielzeug, Helsen sie erziehen und spielen mit ihnen. Niemals
wird ein Kind gezüchtigt oder auch nur ausgescholten, und immer giebt
man ihm, was es verlangt. Auf diese Weise behandelt man die Kin¬
der bis zum dritten oder vierten Jahre; die Mütter können sich nie
von ihnen trennen und sterben oft vor Kummer, wenn sie sie ver¬
lieren. Aber auch die Kinder beweisen zu jeder Zeit ihren Eltern
Liebe und Achtung und diese väterliche und mütterliche Achtung ist, so
viel man weiß, die einzige Autorität, welche die Eskimos, die keine ei¬
gentlichen Häuptlinge haben, anerkennen, und die Befehle ihrer Eltern
werden nie übertreten; selbst bei eintretender Mannbarkeit, die doch die
Kinder der Herrschaft der Eltern entzieht, wird noch immer jener Ge¬
horsam geleistet, den sie als eine ihrer heiligsten Pflichten betrachten.
Kapitän Parry fragte einst einen Eskimo, ob er mit ihm reisen wolle,
und erhielt das 7—8mal heftig hintereinander ausgestoßene Wort Nao
(Nein) zur Antwort; nach der Frage wegen der Ursache dieser unge¬
stümen Weigerung erwiederte der Eskimo: „Mein Vater würde weinen."
Diese große gegenseitige Liebe der Eltern und Kinder unter ein¬
ander ist um so auffallender, als sie mit der den Eskimos gleichsam
tingebornen Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit in Widerspruch steht,
ivelche sie gegen die Leiden und bei dem Tode von Nachbarn und Ver-
rvandten an den Tag legen. Eine Frau pflegt ihren kranken Mann
r lur deshalb, weil sie weiß, daß sein Tod sie in eine hülstose Lage ver-
si rtzen würde; und übernimmt eine andere Person seine Wartung, so
c rkundigt sie sich gar nicht mehr nach ihm. Der Mann seinerseits
verlaßt seine sterbende Frau, ohne sich darum zu bekümmern, ob je-
r.aand für sie sorge und sehr oft geschieht es, daß eine Frau, die keine
Kinder hat, verlassen in ihrer Hütte iliegen bleibt, ohne daß jemand
n ach ihr sieht, ob sie noch am Leben ist oder nicht. Wittwen, so wie
alte und gebrechliche Personen überhaupt werden, wenn sie noch eigne
Kinder haben, mit der größten Nachlaßigkeit behandelt. In Zeiten
des Überflusses erhalten auch freilich sie ihren Antheil von dem ge¬
meinschaftlichen Mundvorrathe; bei eingetretenem Mangel aber wird
ihm nur eine sehr geringe Quantität gereicht, und sie kommen, da sie
in ihrer Krankheit verlassen werden, oft allein aus Mangel und Ver-
nachläßigung um. Waisen finden wenig Unterstützung und ein solches
armes Geschöpf wird nur dann von einer Familie an Kindes Statt
angenommen, wenn es ein Knabe ist und sich diese von den Diensten
und der Arbeit des Heranwachsenden Kindes Vortheil versprechen kann.
Noch schändlicher ist es, daß man sogar Hülstose ausplündert. Hat
eine Frau ihren Mann verloren und sitzt, von kleinen Kindern umge¬
ben, in Schmerz versunken, in ihrer Hütte, so eilen alle Nachbarn
herbei und suchen alles zu entwenden, was die ärmliche Hütte enthält.
Kapitän Lyon war Zeuge einer Szene dieser Art, die er mit folgen¬