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ihn bedeckt mit köstlichen Teppichen. Erwartungsvoll steht die
Menge. Da nahet der Zug der Priester mit dem Wagen der
Göttin, welche, unbemerkt von dem Volke, sich freut über ihre
Schöpfung und über die Zeichen der Verehrung, die man ihr
zollt. So fährt sie auf der Insel umher.
Da waren denn die Tage fröhlich und die Orte festlich, welche
die Göttin mit ihrer Gegenwart beglückte; man zog in keinen
Krieg, ergriff keine Waffe zum Kampfe; alles Eisen ruhte; man
kannte nur Friede und Freude. War der Wagen mit der Göttin
vorüber, dann belustigte man sich auf mancherlei Weise. Dort
tanzten Jünglinge zwischen aufgestellten Schwertern; hier unter¬
hielt man sich durch das beliebte Würfelspiel; andere tranken
aus dem Horn des Urs den berauschenden Met und lauschten
auf den Gesang des Barden, der in Liedern die Taten der
Helden besang.
Wenn aber die Göttin des Umgangs mit den Sterblichen
müde war, dann führten die Priester den Wagen zurück in das
Innerste des Haines. Dort wurde sie nebst Wagen und Teppichen
in dem geheimnisvollen See gebadet. Die Sklaven, die man
dabei gebrauchte, kehrten nie zurück; sie wurden von dem See
verschlungen.
Jene Insel „des heiligen Haines" steht noch im Meere, sie
ist das lieblichste Eiland der Ostsee. Ihr Name ist Rügen; noch
zeigen die Eingeborenen dem Fremden den heiligen Hain, wo
einst freudige und freie Menschen sich zum Frühlingsfest der
Mutter Erde versammelten und der Priester mit dem Wagen
den fröhlichen Umzug hielt. Noch ruht der Herthasee mit seinen
liefen Wassern zirkelrund am Fuße hoher, bemooster Erdwälle,
von dunkeln Buchen beschattet, und in dieser stillen Natur um¬
wehen uns noch immer heilige Schauer. ^ T
August Wilhelm Grube.
147. Frau Hütt.
In uralten Zeiten lebte irn Tirolerland eine mächtige Riesen¬
königin, Frau Hütt genannt, und wohnte auf den Gebirgen
über Innsbruck, die jetzt grau und kahl sind, aber damals voll
Wälder, reicher Äcker und grüner Wiesen waren. Auf eine Zeit
kam ihr kleiner Sohn heim, weinte und jammerte; Schlamm