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I. Zur allgemeinen Kultur.
Auge, nicht den, der aus der Kunst der Darstellung entspringt. Dieser
stoffliche Kontrast fehlt bei andern Dichtern, auch im Volksliede,
häufig. Gewöhnlich wird nur e i n Ton angeschlagen, der das
Gedicht in wechselnder Stärke durchzieht, Schmerz oder Freude,
Ruhe, Behagen, Sehnsucht, Hoffnung u. s. w. Dagegen bei Goethe
schwellen die verschiedensten Töne einander herrlich entgegen: Seelen¬
stille und Leidenschaft, Freude und Schmerz, Glück und Unglück,
Haß und Liebe, Entsagung und Begierde, Schuld und Unschuld,
Schuld tiud Sühne, Verzagtheit und Mut, Schlaffheit und Tatkraft,
Traum und Wirklichkeit, Vernunft und Phantasie, Lebensdrang und
Schicksalsmacht, Kunst und Leben, Meisterschaft und Dilletantismus,
Naivetät und Sentimentalität, Natur und Kultur, Eingeschränktheit
und Weltweite, Jugend und Alter, Leben und Tod, Gegenwart und
Vergangenheit, Christentum und Heidentum, Gott und Mensch, und
wie all die Gegensätze heißen mögen, die die Brust der Menschheit
bewegen. Sehr häufig vereinigen sich mehrere Kontraste und geben
dem Gedichte verstärkten Puls und vertiefte Bedeutung.
Aber der Dichter läßt uns nicht in den Gegensätzen stecken,
er läßt die Gegensätze nicht einander ausschließen, sondern ergänzen,
nüt einem Worte, er löst die scheinbaren Disharmonien der Welt
und der eigenen Persönlichkeit in Harmonie aus. Er steht auf einer
Warte, hoch genug, um von ihr aus in der Schuld die Unschuld,
im Schmerz das Begliickende, im Glück das Schmerzliche, in der
Einsamkeit die Fülle, in der Einfalt den Reichtum, im Verzicht den
Gewinn, in der Sünde das Heil zu erkennen, um den Einklang von
Haß und Liebe, Trennung und Wiedersehen, Leben und Tod, Gott
und Welt und tausend andern Gegensätzen zu sehen. Es ist deshalb
aus seiner Brust heraus im Vorspiel zum Faust vom Dichter
gesagt:
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt
Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt?
Wenn die Natur des Fadens ew'ge Länge,
Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt.
Wenn aller Wesen unharmon'sche Menge
Verdrießlich durcheinander klingt;
Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,'
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?
Und wenn wir nach dem tiefsten Grunde dieser hohen Gabe des
Dichters, oder sagen wir sogleich Goethes fragen, es ist derselbe