Full text: Lesebuch für die obere Klasse katholischer Stadt- und Landschulen

506 
Gedichte und andere Lesestücke. 
e. Gedichte vermischten Inhalts. 
Sehet die Vögel unter dem Himmel. 
Die ihr zaget, die ihr fraget: Leib, was essen wir? Die ihr 
klaget und euch plaget: Herz^was trinken wir? Die am Abend 
wie am Morgen ihr euck-. quält mit leeren Sorgen — nehmt der 
freien Vögel Schaar unter GotteZ Himmel wahr. — In den Lüf¬ 
ten, auf den Zweigen und in Feld und Wald, wenn die düstern 
Menschen schweigen, lauter Jubel schallt; und in aller Welten 
Zonen, wo die muntern Vögel wohnen, ruft's: „Herr Gott, dich 
loben wir!" tönt's: „Herr Gott, wir danken ^r!" 
Wenn, in's erste Grün gekleidet, sich der Frühling naht; 
wenn der Pflug die Furchen schneidet — zu der Sommersaat, keh¬ 
ren auch die Schwalben wieder. Und auf steigendem Gefieder 
singt die Lerch' ihr Psalmgedicht; doch die Vögel säen nicht. 
Wenn ihr in den Sommertagen durch die Wälder streift, hört 
die Nachtigall ihr schlagen, eh' das Korn gereift. Doch wenn 
Erntelieder schallen, schweigen schon die Nachtigallen, scheuen jede 
saure Pflicht; denn die -Vöglein ernten nicht. 
In den Kammern, in den Scheunen liegt des Herbstes Frucht; 
an den Hecken, an den Zäunen manches Vöglein sucht wohl ein 
Körnlein zu gewinnen, trägt's bescheiden dann von hinnen in das 
warme Nest und spricht: „Sammle wohl in Scheunen nicht!" 
Aber der im Himmel droben nährt uns Alle doch; den auch 
wir als Vater loben, sorget immer noch. Naht des Winters rauh' 
Geleite, ziehn die Störche fort ins Weite; und der Sperling fin¬ 
det hier auch im Dunkeln sein Quartier. 
Die ihr zaget, die ihr fraget: Leib, was essen wir? Die ihr 
klaget und euch plaget: Herz, was trinken wir? Die am Abend 
wie am Morgen ihr euch quält mit leeren Sorgen —- nehmt an 
dieser Vöglein Schaar eures Glaubens Mangel wahr! 
Der Eichbaum. 
Ein junger Eichbaum, kräftig und stark, mit breiten 
Aesten, gesundem Mark und fester Wurzel, stand auf d^r 
Au’ und streckte sich hoch in des Himmels Blau. Um ihn 
her standen Pappeln und Linden, auch schlanke Birken mit 
weisslichen Rinden; doch er ragt empor voll Majestät, wie 
der König über dem Volke steht, und sprach zu ihnen: „Ihr 
schlechten Gesellen, ihr dürfet euch gar nicht neben mich stel¬ 
len. So ein verkrüppelt Geschlecht von Zwergen, das kann 
nur meine Schönheit verbergen. Betrachtet mich mit meinen 
Zweigen, wie sie bis zu den Wolken reichen! Und streckt
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.