Full text: Ein Lese- und Lehrbuch für obere Klassen der Volksschulen (Theil 4)

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Schlange, die ihn also anredete: „Guter Wanderer, er¬ 
barme dich meiner in dieser drückenden Gefangenschaft. Ich 
werde des Hungertodes sterben, wenn du den schweren 
Stein nicht fortwälzest. Schon viele Tage habe ich durch 
diese Ritzen gelauscht, ob Nicht irgend ein barmherziges 
Wesen herzukäme und mich erlösete. Sei du der Bote 
meiner Freiheit und der Retter meines Lebens; ich will 
dir eben so treu lohnen, wie ihr Menschen die größten 
Wohlthaten zu belohnen pfleget." Der gutherzige Bauer, 
welcher die schmerzliche und trostlose Lage der Schlange 
so lebendig fühlte, als wenn er selbst unter dem Felsen 
eingekerkert wäre wurde durch die Bitten und das ge¬ 
heimnißvolle Versprechen der goldig glänzenden Schlange 
so sehr bewegt, daß er alle Furcht vor dem gefährlichen 
Thiere verlor und den Stein sogleich von der Oeffnung 
entfernte. Aber kaum war die Schlange in Freiheit ge¬ 
setzt, da bäumte sie sich schrecklich empor und öffnete den 
hungrigen Rachen, um den Bauer zu verschlingen. „Holla!" 
rief der Bauer, indem er dem zischenden Ungeheuer nach 
der Seite auswich; „ist das der Lohn für die größte 
Wohlthat, welche dir erwiesen werden konnte?" „Aller¬ 
dings," erwiderte die Schlange, „denn Undank ist der Welt 
Lohn, und ich versprach dir, daß ich dir so lohnen würde, 
wie die Welt es zu thun pflege." „Das ist freilich wol 
wahr," entgegnete der Bauer; „auch ich habe oft Undank 
für meine redlichsten Bemühungen eingeärntet; aber ich 
habe doch noch niemals gehört, daß Jemand den Retter 
seines Lebens zur Entgeltung getödtet habe." Solche 
feine Unterscheidungen," antwortete die Schlange, „kann 
ich nicht annehmen; Wohlthat ist Wohlthat, und der Welt 
Dank ist Undank; ich habe lange genug Hunger gelitten. 
Was hilft mir die Freiheit, wenn ich mich der süßesten 
Speise enthalten soll, und nickt emmal meinen Hunger 
stillen darf?" „All mein Vieh steht dir zu Gebote," fiel 
rasch der Bauer ein; „gehe mit mir, und du kannst dir 
nehmen, wozu du Lust hast." 
In diesem Augenblicke sprang ein Fuchs herbei, welcher 
die letzten Worte des Bauers gehört hatte. „Laß dich nicht 
erweichen, edle Schlange," rief er hastig; ich sehe, ihr 
habt Streit, und ich weiß im voraus, daß der Mensch 
Unrecht hat." „Gewiß!" sagte die Schlange; „sei du un-
	        
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