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80. Die Warnung.
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Heinrich (auf den Baum deutend) Siebst du? Siehst
du da oben?
Wilhelm. Was denn?
Heinr. — Die Kohlmeise in den hohlen Baum schlüpfen?
— Da ist gewiß ihr Nest!
Wilh. Gut! so wünsche ich dir Glück zur Entdeckung!
Heinr. Du glaubst doch nicht, daß ich den Fund allein
behalten wolle?
Wilh. Verkaufe nur die Bärenhaut nicht zu früh! Was
willst du denn mit den Vögelchen machen?
Heinr. Sie in einen K^fig stecken.
Wilh. Und darin verhungern lassen?
Heinr. Warum nicht gar? Können wir sie nicht vor
unser Fenster hängen, daß die Alten sie groß füttern?
Wild. Aber werden sie dies auch thun?
Heinr. Warum nicht? Ist der Baum nicht nahe genug
an unserm Hause? — Kannst du dir etwas lustigeres
denken, als die jungen Vögelchen so flattern, zwitschern
und den Schnabel aufsperren zu sehen, wenn die Alten
mit Futter kommen?
Wilh. Und so etwas kann dir Vergnügen machen?
Heinr. Warum denn nicht?
Wilb. Würde es uns wol auch Spaß machen, wenn
wir in einem Gefängnisse säßen, und unsere jammernden
Eltern müßten uns durch ein Gitter das Brod reichen?
Heinr. Sind wir denn Vögel?
Wilh. Wenn das auch nicht; aber hast du das Sprüch-
chen: ,,Auch ein Thier empfindet Schmerz, quäl' *6 nicht,
o menschlich Herz!" ganz vergessen?
Heinr. Will ich sie denn quälen? am Faden herumschlep¬
pen? bei lebendigem Leibe rupfen? oder verhungern lassen?
Wilh. Glaubst du denn nicht, daß schon die Gefangen¬
schaft und die Trennung von ihren Allen Qual genug
für sie ist? Rührt es dich nicht, wenn die Alten so ängst¬
lich um das Gitter herumfliegen und locken? wenn ihre
Jungen ihnen so sehnlich entgegenflattern? wenn die treuen
Alten an dem Käfig sich anklammern und ihre armen Klei¬
nen durch's Gitter zu liebkosen scheinen, indem sie ihnen das
Futter bringen? Bruder! wie kannst du so hartherzig sein?