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"Du bist wunderlich, liebe Freundin!" sprach die Maus.
"Bete in deinem Neste und schone deine Kraft! Der liebe Gott
hört dich so gut auf der Erde, wie in den Wolken. Thue wie
meine Freundinen Stieglitz und Finke; sie fliegen von Zweig
zu Zweig in den Räumen des Waldes und zwitschern im Laube
ihr Liedchen, ohne ihre Schwingen zu ermüden."
"Ein Jeder thue nach seiner Art!" erwiderte die Lerche.
"Mich treibt es hinauf in die blaue Himmelsluft. Dort in
den ziehenden Wolken fühle ich mich dem lieben Gott so nahe,
und überschaue weithin seine Werke. Je höher ich steige, desto
freudiger und jubelnder erklingen meine Lieder. Berg und Thal,
Ströme und Bäche, die wallenden Kornfelder und die duftenden
Räume des Waldes breiten sich aus vor meinen Augen, und
an jedem Morgen empfinde ich von Neuem die Größe und All¬
macht unsers Vaters im Himmel, der seine Erde prächtig ge¬
schmückt und wunderbar schön erschaffen hat. Die Sonne naht,
es treibt mich hinauf, meine Brust zu laben im Morgenlichte.
Lebe wohl! lebe wohl!"
Die fromme Lerche entfaltete ihre Flügel und schwang sich
aufwärts. Ihre Lieder erklangen durch die schweigende Flur und
erfüllten die Luft mit immer süsserem Schalle, je höher sie auf¬
stieg in die Räume des Himmels. Das Mäuschen schaute in
Gedanken ihr nach, bis sie in den Wolken verschwand, und ver¬
kroch sich dann wieder in sein dunkles Loch.
35. Sei andächtig und ehrerbietig im Tempel des
Herrn!
An dem heiligen Johann von Nepomuk stellen sich in sei¬
ner Kindheit und Jugend vorzüglich zwei schöne Tugenden unsern
Augen dar, nämlich sein Fleiß in der Ausbildung seiner Seelen-
kräste, und seine besondere Andacht und Ehrerbietung bei dem
öffentlichen Gottesdienste. Jenen äußerte der heilige Johannes
dadurch, daß er schon als Knabe die Klosterschule, wohin ihn
seine Eltern schickten, nicht nur unterbrochen besuchte, sondern
sich auch da so fleißig und aufmerksam betrug, daß er allen sei¬
nen Schülern hierin zum Muster der Nachahmung wurde. Das
Nämliche that er auch späterhin als Jüngling, während er die
lateinischen Schulen in Saaz, und nachher die höhere in Prag,
besuchte. Seine erbomliche Andacht und Ehrerbietung bei dem
Gottesdienste gab er aber dadurch zu erkennen, daß er gleich¬
falls schon als Knabe täglich der Kirche zueilte, und sein ein¬
ziges Vergnügen darin fand, dem Priester am Altare bei dem