Full text: Lesebuch für hannoversche Volksschulen

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nen zu nichts Hilst, und wo man besser thut, auch fünf gerade sein 
zu lassen. Wenn du den Armen gibst oder deinem Bruder leihest, 
so brauchst du nicht eben zu berechnen, wie viel du mit dem Gelde 
sonst wohl hättest erwerben können, oder wie viel es Zinsen brächte 
in einem Jahre oder in zweien. Und wenn du mit andern zu theilen 
hast, und sie wollen dir geben, was billig ist, so mußt du auch nicht 
haarscharf berechnen, daß dir noch etliche Thaler oder Groschen mehr 
zukommen; das ist ja auch etwas werth, daß du die Sache in der Güte 
beendest und nicht nöthig hast, erst mit deinen Freunden zum Richter 
zu gehen. 
80. Nachgeben stillt den Krieg. 
IWi Wanderer in Arabien lagerten sich im Walde an einer kla¬ 
ren Quelle, ihr einfaches Mittagsmahl zu verzehren. Da gesellt sich zu 
ihnen ein Fremder und bittet: „Laßt mich theilnehmen an euerm 
Mahle; denn ich habe wohl Geldes genug bei mir, aber doch keine 
Speise." Die beiden Wanderer sind es zufrieden, und der eine langt 
aus seiner Reisetasche drei kleine Brote, der andere aber langt deren 
fünf hervor; die drei verzehren die acht Brote, und der eine so viel wie 
der andre. Nach der Mahlzeit aber zog der Fremde seines Weges und 
ließ den beiden acht Goldstücke zurück. 
„Acht Brote," sagte der eine, „und acht Goldstücke; das gibt 
ja eine leichte Rechnung. Du hattest drei Brote: da nimm deine 
drei Goldstücke. Ich hatte fünf Brote; für mich also bleiben fünf 
Goldstücke." „Nein," sagte der andre, „deine Rechnung trügt: der 
Fremde hat nicht unsre Brote bezahlen, er hat uns für unsre Freund¬ 
lichkeit wiederum erfreuen wollen. Mein Wille war nicht schlechter, 
als der deine; laß uns redlich theilen, und begnüge dich mit vier 
Goldstücken." 
Wie es denn zukommen Pflegt, wenn man anfängt, das Recht 
und Unrecht abzuwägen, so ging es auch hier; die Gemüther erhitzten 
sich im Streite, und sie gingen zum Kadi (so nennt man dort zu Lande 
die Richter); der sollte den Ausspruch nach aller Strenge des Rechtes 
thun. 
„Ich rathe euch," sagte der Kadi, „daß ihr wie Brüder theilet." 
„Nein," riefen die beiden, „wir wollen einen Richterspruch nach stren¬ 
gem Rechte." 
„Nun gut, ihr sollt ihn haben," versetzte der Kadi. „Nicht 
wahr? ihr hattet acht Brote?" „Ja, Herr, acht." „Ihr drei aßet 
von jeglichem gleich viel?" „Ja, Herr, von jeglichem Brote aß 
jeglicher ein Drcktheil." „Also aß jeglicher von euch acht Drittheile 
von den Broten?" „So ist es," erwiderten die beiden. „Nun 
sage, du hattest drei Brote, das sind ja wohl neun Drittheile?" 
„Ja freilich." „Acht Drittheile hast du selber gegessen, und der 
Fremde hat von deinem Dorrathe nur das Drittheü eines Brotes 
gegessen?" „So scheint es," sagte der Befragte ein wenig kleinlaut. 
„Woher sind denn die übrigen Drittheile gekommen, die der Fremde 
verzehrt hat?" „Ich denke, von dem Verrath meines Gefährten."
	        
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