Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

154 
Empfindungen vergleichen läszt. Dann war er der Sohn, der 
verzweifelnd zu den Füszen seines Vaters liegt, oder der treue 
Diener, der zu seinen Füszen fleht. Denn unerschütterlich war 
seine Ueberzeugung, dasz man durch Bitten und Mahnen auf 
Gottes Entschlüsse einwirken könne. Und so wechselte in 
seinem Gebet Ergusz der Empfindungen mit Klage, ja mit ernsten 
Vorstellungen. Es ist oft berichtet, wie er den todkranken 
Melanchthon im Jahre 1540 zu Weimar wieder zum Leben 
brachte. Als Luther ankam, traf er Magister Philippus im 
Verscheiden, ohne Besinnung, mit gebrochenen Augen. Luther 
erschrak gewaltig. Dann kehrte er der Gesellschaft den Bücken 
und trat zum Fenster, wie er gerne that, wenn er betete. „All- 
bier", sagt dann Luther selbst, „muszte mir unser Herr Gott 
herhalten; denn ich hielt ihm alle Verhetzungen des Gebets 
vor, die ich aus der heiligen Schrift zu erzählen wuszte, so dasz 
er mich anhören muszte, wenn ich anders seinen Verhetzungen 
trauen sollte."' Darauf faszte er Melanchthon bei der Hand: 
„Seid getrost, Philipp, ihr werdet nicht sterben !" Und Melanch¬ 
thon fing unter dem Zauber seines starken Freundes zur Stelle 
an, Athem zu schöpfen, und erhielt die Besinnung wieder. Er 
wurde hergestellt. 
215. Der Schiffsbrand. 
Weithin wogte das prächtige majestätische Meer. Der Rand desselben 
war mit einem langen, dunklen Streifen eingefaßt, dessen Oberfläche rosen¬ 
farben erglänzte; das war die im letzten Schimmer der Abendröthe er¬ 
glühende Küste von Biscaya. Aus den Wellen schaukelte sich der stolze 
Rumpf einer Fregatte; von ihrem großen Mast wehte der königliche Wimpel, 
von ihrer Gaffel die blutrothe Danebrogsflagge mit dem weißen Kreuz. 
Von dem Verdeck bis zu den Oberbramstengen war das Schiff mit 
seinen Segeln bedeckt; aber der schwache Hauch des Windes hielt sie kaum 
gefüllt, und nur langsam bewegte sich das Schiff der fernhin winkenden 
Küste entgegen. Die Seitcnborde waren mit einem glänzenden schwarzen 
Lack überzogen, dazwischen liefen zwei weiße Linien in zierlicher Wölbung 
zur Schanze; es waren die Einfassungen der Kanonenpforten, die geöffnet 
waren und fünfzig Feuerschlünde zeigten, welche hell erglänzten im schei¬ 
denden Abendlicht. „Atalante" hieß die Fregatte. Aus den erleuchteten 
Fenstern tönte fröhliches Geschwätz ; es schallte von der Tafel des Kapitäns 
her, der seine Offiziere zu einem fröhlichen Banket um sich versammelt hatte. 
Jetzt ertönte die silberne Pfeife des Hochbootmanns, und gleich darauf 
wurde es lebendig auf dem Verdeck. Aus den Masten und aus den Schan¬ 
zen kamen sie herbei und sammelten sich am Backbord des Mitteldecks. Hier 
stellten sie sich nach der bestimmten Ordnung aus, je acht Mann um eine 
Schüssel; nachdem diese gefüllt war, begaben sie sich nach den ihnen ange-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.