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Anna sprach : Wenn du mich an einen Ort hinführen
kannst, wo es niemand sieht, so gehe ich mit dir.
Nun, sagte Jakob, so komm' mit in das Milchkämmerlein !
Dort wollen wir eine Schüssel voll süszen Kahmes verzehren.
Anna sprach : Dort sieht es der Nachbar, der auf der Gasse
Holz spaltet.
So komm’ mit mir in die Küche ! sagte Jakob. In dem
Küchenkasten steht ein Topf voll Honig ; in diesen wollen wir
unser Brot eintauchen.
Anna sprach : Dort kann die Nachbarin hereinsehen, die
an ihrem Fenster sitzt und spinnt.
So wollen wir drunten im Keller Aepfel essen! sagte Jakob.
Dort ist es so stockfinster, dasz uns gewisz niemand sieht.
Anna sprach : 0, mein lieber Jakob! Meinst du denn wirk¬
lich, dasz uns dort niemand sehe? Weiszt du nichts von jenem
Auge dort oben, das die Mauern durchdringt und in’s Dunkle
sieht ?
Jakob erschrak und sagte : Du hast Recht, liebe Schwester !
Gott sieht uns auch da, wo uns kein Menschenauge sehen kann.
Wir wollen daher nirgends Böses thun.
10. Das bittere Blümchen.
(¿ine Mutter ging an einem Frühlingstage mit ihrem Töchter-
lcin hinaus in das Gebirge. Und als sie nun draußen waren, sreuete
sich das Mägdlein der vielen Blumen und Pflanzen, die am Wege
standen und blüheten.
Aber vor andern hatte sie Wohlgefallen an einem Blümchen, das
war klein und zart, und seine Farbe war röthlich und schön. Minna
— denn also bieß das Mädchen — brach das Blümchen und betrach¬
tete es mit Freude und küßte cs und roch daran und konnte nicht auf¬
hören, es zu preisen.
Aber bald wurde sie alles dessen überdrüssig und satt. Sie ver¬
langte noch größere Freude an dem Blümchen zu haben und steckte es
in den Mund und wollte es essen.
Aber was folgte nun? Minna kam in vollem Laufe zur Mutter
und weinte und ries: „O liebe Mutter, das Blümchen war so schön
von Gestalt und Farbe, und da aß ich es; aber nun ist es so bitter.