Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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jagte auf seinem Zelter, der meilenlange Fluren in Minuten übersprang, hinter¬ 
drein. Emma kam an jenen Felsen, unter dem an 1000 Fuß tief der Abgruud 
liegt; der gegenüberstehende Fels war weit und steil; als sie aber Bohdo heran¬ 
nahen hörte, setzte sie über den Abgrund glücklich hinweg, wobei das Roß seinen 
Huf 4 Fuß tief in das harte Gestein schlug. Bohdo, der nur auf Emma blickte, 
sah den Abgrund nicht, stürzte hinein und gab so dem Flusse den Namen (Bode). 
Die Bewässerung des Harzes ist im ganzen ziemlich reichlich; überall spru¬ 
deln Quöllen hervor, die sich zu kleinen Bergbächen und Flüssen vereinigen, daher 
auch üppiger Wiesen- und Baumwuchs, auf der Hochfläche des Unterharzes sogar 
vortrefflicher Getreidebau. Von Bergseen aber ist nicht die Rede. Auf dem 
Brocken liegt der Schnee bis in den Mai und Juni hinein. Der ganze Oberharz 
hat wenig Frühling, viel Nebel und Regen, etwa 6 Wochen Sommer, ganz dem 
Klima von Norwegen und Schweden entsprechend. 
Die Harzflüsse sind rein, doch reich an Krebsen und Fischen, besonders Fo¬ 
rellen. Wo die Thäler weit werden, treibt man Leinwandbleicherei; der Flachs¬ 
bau jedoch ist dem Harze fremd. Die Kartoffel ist die einzige Frucht, die dem 
Harzer treu bleibt. Wenig Obst gedeiht in diesem Klima, desto mehr stehen Blu¬ 
men, Wald und Wiesen in Flor. An Preißel- und Blaubeeren ist Ueberfluß; sie 
werden gesammelt und verkauft. Die Baumarten des Uuterharzes sind Ahorn, 
Esche, Ulme, Birke, Rothbuche; an den mildesten Punkten stehen Roßkastanien. 
Bei Wernigerode und Blankenburg findet man aber auch die echte Kastanie kleine 
Wäldchen bildend. In den Oberharz folgt der Tanne nur die Birke eine Strecke 
weit, und noch etwas weiter die „Quitsche", deren rothe Vogelbeeren dem Ober¬ 
harzer zu seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Vogelfänge, gute Dienste leisten. In 
der Höhe von 3170 Fuß schwindet am Brocken schon der Baumwuchs, nachdem 
er zuvor niedrig und krüppelig geworden; nur das heilsame isländische Moos, die 
Berganemone und einige Alpenkräuter fühlen sich auf dem kahlen Scheitel des 
nebelumfluteten Vater Brocken wohl. 
Im Thierreiche sind die Vögel am zahlreichsten vertreten, und der Spott¬ 
vogel, der Zaunkönig, der Bergfinke, das Goldhähnchen, die Meise, der Zeisig, 
der Staar, das Rothkehlchen, der Falke und die Drosseln, welche Heinrich I. den 
Harz so lieb machten, sind noch jetzt sehr laut in diesen Waldungen. Die Jagd 
liefert noch Eber, Hirsche, besonders viel Rehe; auch wilde Katzen finden sich noch 
hin und wieder. Von Hausthieren sind im Harz Ziegen und Schafe, mehr noch 
Schweine, besonders aber Rindvieh zu nennen. 
Die größten Reichthümer des Harzes aber bestehen in Metallen, welche 
durch den Bergbau zu Tage gefördert, in Schmelzhütten geschieden, in Hammer¬ 
werken und Fabriken verarbeitet werden: Silber, Eisen, Kupfer, Blei, Zink, 
Steinkohlen, Schwefel, Vitriol ist reichlich vorhanden. Silber gewinnt man noch 
46,000 Mark jährlich, Eisen 220,000 Ctr., Kupfer 17,000 Ctr. Die bedeutendste 
Silbergrube ist bei Andreasberg in der Berghauptmannschaft Clausthal. 
Trotzdem werden die Bergleute und das Volk des Gebirges nicht reich. Die Berg¬ 
werke gehören den Regierungen (Preußen, Braunschweig, Anhalt-Bernburg) oder 
reichen Privatleuten. Wer mit eignen Händen Erzadern sprengt, schmelzt, häm¬ 
mert, der hat die Mühe und nicht den Ertrag. Doch freut den Harzer die gute 
Ausbeute, als wäre sie sein; denn er ist arm, aber zufrieden, und der Zufriedene 
ist am Ende doch der Reichste. 
Andere Beschäftigungen der Harzbewohner neben dem Bergbau sind das 
Beerenlesen, das Holzhauen, die Kohlenbrennerei und die Vogelstellerei. Die 
Beerenleser suchen sich die gelichteten Stellen des Waldes auf, wo sie Erd- und 
Himbeeren in Menge finden, die sie dann zum Verkauf austragen. — Die Köhler 
führen ein den Sennhirten ähnliches Leben. Ist der Schnee in den Bergen ge¬ 
schmolzen, so ziehen sie mit ihren zweiräderigen Kohlenkarren fort von Weib und 
Kind und kehren erst kurz vor Anbruch des Winters wieder heim. Sie sind unter- 
allen Harzbewohnern diejenigen, die am längsten im Walde verweilen. Der Köh¬ 
lermeister hat wie der Sennhirt seine Handbuben, dip ihn bei der Arbeit unter¬
	        
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