Full text: Preußischer Kinderfreund

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Statt dessen erwacht in uns ein göttlicher Trieb, wohlzu¬ 
thun, die Menschen zu lieben und selbst unsern Feinden zu 
vergeben. Ein gränzenloses Erbarmen mit aller Kreatur und 
Natur bemächtigt sich unserer verborgensten Neigung und — 
Kind. Es pickt etwas drinnen an unser Kammerfenster! 
Vater. Siehe zu, was es ist! 
Kind, (kehrt freudig zurück); Vater, ein halb ersror- 
nes Rotbkehlchcn. 
Vater. Was meinst du, Kind, sollte das vielleicht auch 
eine Frage der Liebe und Barmherzigkeit sein, die der himm¬ 
lische Larer aus dem verschneiten Walde an uns zu bestel¬ 
len hätte? 
Kind. Ich will das Fenster öffnenl Zch will es her¬ 
einlassen und ihm Futter streuen! 
Vater. Mir fällt dabei der schöne Spruch in der hei¬ 
ligen Schrift ein, den uns ebenfalls Christus gelehrt hatt 
„Sehet die Vögel unter dem Himmel an —" 
Kind, (hastig) „Sie säen nicht, sie ärnten nicht, sie 
sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater 
nähret sie doch." 
Vater. ' Wenn du diesen Spruch nur einigermaßen 
verstehst, liebes Kind, so wirst du auch bald einsehen lernen, 
dass es nicht blos ein Vaterunser für Menschen, fonbera 
auch ein Vaterunser für Blumen und Vögel giebt. Wenn 
nämlich ihr Vater auch zugleich unser Vater ist; wenn jeder 
Arme, der an unsre Thüre klopft, nach dem Evangelium, 
als von Christus gesandt, erscheint: so wird auch wol das 
halb erfrorne Vögelein dort, das an unser Fenster pickt, den 
nämlichen Gruß der Liebe und Barmherzigkeit an uns zu 
bestellen haben! 
Wanderer, (der mit gefallenen Händen und entblö߬ 
tem Haupte vom Tische ausstehr> Das walte Gott Vaters 
Sohn und heiliger Geist! Amen! 
Kind. Komm, fremder Mann, und lass' dir nun deine 
Schlasstätte anweisen! Salg> 
214. Allgemeine Betrachtungen über das 
Weltge bände. 
Wer zwischen seinen bekannten Bergen und Bäumen 
daheim sitzt, bei den Seinigen, oder bei einem guten Mahle, 
dem ist wohl, und er denkt nicht weiter. Wenn aber frülsi 
die Sonne in ihrer Herrlichkeit ausgeht, so weiß er nicht, 
wo sie herkommt, und wenn sie abends untergeht, weiß er 
nicht, wo sie hinzieht, und wo sie die Nacht hindurch iht 
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