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viel Geld gaben, daß er Leder zu vier Paar Schuhen einkaufen
konnte. Er fand früh morgens auch die vier Paar fertig; und so
ging's immer fort: was er abends zuschnitt, das war am Morgen
verarbeitet, also daß er bald wieder sein ehrliches Auskommen
hatte und endlich ein wohlhabender Mann ward. Nun geschah es
eines Abends nicht lange vor Weihnachten, als der Mann wieder
zugeschnitten hatte, daß er vor Schlafengehen zu seiner Frau
sprach: „Wie wär's, wenn wir diese Nacht aufblieben, um zu
sehen, wer uns solche hilfreiche Hand leistet?“ Die Frau war's
zufrieden und steckte ein Licht an; darauf verbargen sie sich in den
Stubenecken hinter den Kleidern, die da aufgehängt waren, und
gaben acht. Als es Mitternacht war, da kamen zwei kleine, nied—
liche, nackte Männlein, setzten sich vor des Schusters Tisch, nahmen
alle zugeschnittene Arbeit zu sich und fingen an, mit ihren Finger—
lein so behend und schnell zu stechen, zu nähen, zu klopfen, daß der
Schuster vor Verwunderung die Augen nicht abwenden konnte.
Sie ließen nicht nach, bis alles zu Ende gebracht war und fertig
auf dem Tische stand; dann sprangen sie schnell fort.
Am andern Morgen sprach die Frau: „Die kleinen Männlein
haben uns reich gemacht, wir müßten uns doch dankbar dafür
zeigen. Sie laufen so herum, haben nichts am Leibe und müssen
frieren. Weißt du was? Ich will Hemdlein, Rock, Wams und
Höslein für sie nähen, auch jedem ein Paar Strümpfe stricken;
mach du jedem ein Paar Schühlein dazu.“ Der Mann war das
wohl zufrieden. Abends, wie sie alles fertig hatten, legten sie die
Geschenke statt der zugeschnittenen Arbeit zusammen auf den Tisch
und versteckten sich dann, um mit anzusehen, wie sich die Männlein
dazu anstellen würden. Um Mitternacht kamen sie herange—
sprungen und wollten sich gleich an die Arbeit machen; als sie aber
kein zugeschnittenes Leder, sondern die niedlichen Kleidungsstücke
fanden, verwunderten sie sich erst, dann aber bezeigten sie eine ge—
waltige Freude. Mit der größten Geschwindigkeit zogen sie sich
an, strichen die schönen Kleider am Leibe und sangen:
„Sind wir nicht Knaben glatt und fein?
Was sollen wir länger Schuster sein!“
Deutsches Sesebuch Ausgabe A. Zweiter Teil.