Object: [Teil 3 = Kl. 6 u. 5, [Schülerband]] (Teil 3 = Kl. 6 u. 5, [Schülerband])

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Menschenleben. — 11. Die Schnitterin. 
Stütze ihres Alters. Schon stand die Sonne im Mittag; da sprach der 
Gras, um des flehenden Weibes los zu werden: „Kannst du noch, ehe 
die Sonne untergeht, mir drei Äcker Gerste schneiden, so soll dem Sohn 
frei sein." 
Da ging die Mutter aufs Feld und schwang die Sichel; ein 
Schwaden sank nach dem andern nieder, sie schaute nicht um und auf; 
bald lag der eine Acker, dann der zweite, und eben als die Sonne ver¬ 
schwand, fiel der letzte Halm. Aber von der übermäßigen Arbeit er¬ 
schöpft oder vor Freude über das kaum gehoffte Gelingen sank sie selber 
zusammen, und man trug sie tot vom Felde. — Auf dem Kirchhofe in 
Ballum liegt sie begraben. Dort zeigt man noch einen grauen, bemoosten 
Leichenstein, den man einst zu ihrem Gedächtnis ihr aufs Grab legte. 
Ein Weib mit einer Sichel und einigen Garben im Arme ist darauf 
ausgehauen. Karl Müllenhoff. 
12. Das Erkennen. 
1. Ein Manderbursch, mit dem Stab in der Hand, 
kommt wieder heim aus dem fremden Land. 
2. Sein Haar ist bestäubt, fein Antlitz verbrannt. 
Von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt? 
3. So tritt er ins Städtchen, durchs alte Tor; 
am Cchlagbaum lehnt just der Zöllner davor. 
4. Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund, 
oft hatte der Becher die beiden vereint. 
5. Doch sieh, — Freund Zollmann erkennt ihn nicht; 
zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht. 
6. Und weiter wandert nach kurzem Gruß 
der Bursche und schüttelt den Staub vom Futz. 
7. Da schaut aus dem Fenster sein Schätze! fromm: 
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!" 
6. Doch sieh, — auch das Mägdlein erkennt ihn nicht; 
die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht. 
9. Und weiter geht er die Straß' entlang, 
ein Tränlein hängt ihm an der braunen Wang'. 
10. Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her. 
„Gott grüß' Euch!" — so spricht er und sonst nichts mehr.
	        
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