e. Die Rinder des Helios.
G. Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums.
(Odysseus erzählt.)
1.
Als wir zwischen dem Strudel der Charybdis und dem Felsen
der Skylla hindurch waren, lag die von der Sonne glänzende Insel
Thrinakia vor uns, und noch auf dem Meere hörten wir das Ge¬
brüll der heiligen Rinder des Sonnengottes und das Blöken seiner
Schafe. Durch so viel Unglück gewitzigt, dachte ich auf der Stelle
an Kirkes Warnung und kündigte den Genossen an, daß sie mich
gemahnt habe, die Insel des Helios zu meiden, weil uns dort noch
das allerjämmerlichste Schicksal bedrohe. Diese Erklärung be¬
trübte meine Begleiter über die Maßen, und einer von ihnen, Eury-
lochos, sagte ärgerlich: „Du bist doch ein grausamer Mann, Odysseus.
Wie, willst du im Ernst uns müden Leuten nicht gönnen, uns auf
dieser Insel mit Speise und Trank zu erquicken? Sollen wir blind¬
lings in der Nacht hinausfahren durch die schwarzen Meereinöden?
Laß uns wenigstens diese finstere Nacht am Ufer verbringen, das uns
so gastlich zuwinkt!" Als ich diesen Widerspruch hören mußte, da
merkte ich wohl, daß ein feindseliger Gott Böses über uns beschlossen
hatte. Ich sagte daher nur: „Ihr habt es leicht, mich, den einzelnen
Mann, zu zwingen. So gebe ich euch denn nach. Aber einen heiligen
Schwur müßt ihr mir tun, dem Sonnengott kein Rind oder auch
nur ein Schaf zu schlachten. Begnüge sich vielmehr jeder mit der
Kost, mit der uns die gute Kirke versorgt hat!" Diesen Eid
leisteten mir alle willig. Darauf ließen wir das Fahrzeug in eine
Bucht einlaufen, wo sich süßes Wasser in die Salzflut ergoß. Alle
stiegen aus dem Schiffe, und es währte nicht lange, so war das
Nachtessen bereit.. Nach dem Mahle überwältigte uns müde See¬
fahrer der Schlummer.
Es mochte noch ein Drittel der Nacht übrig sein, als Zeus
einen entsetzlichen Sturm sandte, so daß wir mit der Morgenröte
eilig unser Fahrzeug in einer Meergrotte in Sicherheit brachten.
Noch einmal warnte ich meine Genossen vor dem Rindermorde;
denn bei der ungestümen Witterung sahen wir einem längeren
Aufenthalte auf der Insel entgegen. Auch verweilten wir wirklich
einen vollen Monat allda, weil beständig der uns ungünstige Südwind
blies. Solange von Kirkes Vorrat noch Speise und Wein übrig
war, hatte es keine Not. Als wir aber alle Nahrung aufgezehrt
hatten und der Hunger sich bei uns einstellte, gingen meine Be-