353
fern", auf das drohende Strafgericht aufmerksam gemacht; allein ver-
führt von Betrügern, die sich für göttliche Gesandte ausgaben, achte¬
ten fie nicht darauf. Im Jahre 66 nach Christi Geburt erregten die¬
selben, nachdem fie fich schon früher mehrmals gegen die Römer em¬
pört hatten, wiederum einen allgemeinen Aufstand gegen die letzteren.
Da sandte der Kaiser Vespasian seinen Sohn Titus als Feldherrn
mit einer großen Kriegsmacht nach Palästina, um gegen die Juden
aufs strengste zu verfahren. Mit der größten Erbitterung kämpften
diese gegen die römischen Heere, bis endlich Titus im Februar des
Jahres 70 mit seinen siegreichen Scharen vor Jerusalem heranrückte.
Die Stadt hatte von Natur eine sehr vortheilhafte Lage, da fie auf
Bergen an jähen Abgründen erbaut war; außerdem sicherten drei
starke Mauern und mehre feste Thürme dieselbe gegen Bestürmung,
so daß sie eine der festesten Städte des Alterthums war. Unter den
Thürmen zeichneten fich vier durch vorzügliche Pracht und Größe be¬
sonders aus; jeder von ihnen war ein Palast und ein Bollwerk. Alle
Pracht und Größe der Gebäude aber, mit welchen Jerusalem geschmückt
war, schwand dahin vor der Herrlichkeit des Tempels, der hoch über der
Stadt hervorragte und, aus ungeheuren Steinen geglätteten Marmors
erbaut, von Weitem wie ein blendender, weißer Berg erschien.
Nach einem vergeblichen Versuche, den Juden friedliche Gesinnun¬
gen einzuflößen, befahl Titus den Angriff der Stadt. Lange wehrten
fich die Juden bei allem innern Elend und Zerwürfniß. Von der ersten
Mauer vertrieben, vertheidigten sie fich wüthend auf der zweiten. Als
auch diese durchbrochen und eine Schar der Tapfersten in den niede¬
ren Theil der Stadt eingedrungen war, wurde hier drei Tage lang
ein gräßlicher Kampf geführt, in welchem zuletzt die Juden der Ueber-
macht weichen mußten. Jetzt sann Titus auf den Sturm der dritten
Mauer und ließ, um den Juden jeden Ausgang abzuschneiden und
ihnen jede Hoffnung der Rettung zu benehmen, eine Mauer rings um
die Stadt aufführen. So ward erfüllt, was der Sohn Gottes mit
Thränen gesagt hatte: „Es werden Tage über dich kommen,
da deine Feinde mit einem Walle dich umgeben, dich
ringsum einschließen und von allen Seiten dich beäng¬
stigen werden." Es stellte fich jetzt eine Hungersnoth ein, dne von
einem Tage zum anderen fürchterlicher wüthete, und deren Elend durch
tödliche Seuchen noch vermehrt wurde. Was die niedrigsten Thiere
nicht berühren, das wurde begierig von den Menschen verschlungen.
Die ekelhaftesten Dinge, selbst halb verfaulte Leichen verzehrte man,
ja, sogar eine Mutter schlachtete und aß ihr eigenes Kind. Ganze
Häuser, ganze Geschlechter wurden von der Hungersnoth hinwegge¬
rafft. Vom 24. April bis zum l. Juli wurden zu nur einem Thore
an 116,066 Leichen hinausgeschafft, und, da die Hände zum Begräb-
niß so vieler Leichen fehlten, 600,066 über die Mauern hinabgewor¬
fen. So ging das weitere Wort des Heilandes in Erfüllung; „Es