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A. Erzählende Prosa. IV. Sagen und Legenden.
fried heran und küßte sie zum Abschied auf den Mund. „Gott gebe,-
sprach er, „daß ich dich, liebe Frau, gesund wieder sehe und auch deine
Augen mich! Kürze dir indeffen die Zeit mit deinen holden Verwandten,
denn ich mag nicht daheim bleibm." Da gedachte sie daran, daß sie dem
Hagen erzählte hatte, Siegfried sei zwischen den Schultern verwundbar,
und daß sie dorthin auf Hägens Rath ein seidenes Kreuz an Siegfrieds
Gewand genäht hatte, und getraute sich doch nichts zu sagen, sondern
beklagte, daß sie geboren ward, und ohne Maß weinte das wunderschöne
Weib. Sie sprach zu dem Recken: „Lasset Euer Jagen sein! Mir träumte
in der vergangenen Nacht ein Unglück, wie Euch zwei wilde Schweine
über die Heide jagten, und die Blumen wurden roth; ich habe wahrlich
Ursache, so sehr zu weinen. Ich fürchte gar sehr etlicher Leute bösen
Rath, die uns feindlichen Haß zuwenden, weil man vielleicht ihrer Einen
einmal beleidigte. Bleibet, lieber Herr, das rath' ich Euch in Treue." —
„Meine liebe Traute, ich komme in kurzer Frist zurück. Ich weiß hier
keine Leute, die mir Haß hegen sollten; alle deine Verwandten sind mir
hold, auch hab' ich's um sie nicht anders verdient." — „O nein, Herr
Siegfried; ja, ich fürchte deinen Fall! Mir träumte in der letzten Nacht
ein Unglück, wie über dir zwei Berge niederfielen, und ich sah dich nimmer¬
mehr; willst du von mir scheiden, so thut rnir's von Herzen weh." Er
aber umfing mit seinen Armen das tugendreiche Weib und herzte sie;
dann schied er rasch von ihr, und sie sah ihn leider nimmer gesund wieder.
Da ritten sie von dannen in den tiefen Wald, und mancher schnelle
Ritter folgte zur Kurzweil Günthern und Siegfrieden; Gernot und Gisel-
her aber blieben daheim. Viele beladene Rosse trugen für die Jagdgesellen
Brot, Fleisch und Fische und mancherlei Geräth, wie es einem so reichen
Könige zukommt. Man hieß die stolzen, • schnellen Degen vor dem grünen
Wald gegen die Wildbahn, wo sie jagen sollten, auf einem breiten Anger
Herbergen. Die Jagdgesellen stellten sich an allen Enden auf die Lauer,
da sprach der kühne Mann, Siegfried der Starke: „Wer soll uns in den
Wald nach dem Wilde weisen, ihr raschen Degen?" — „Wir wollen uns
scheiden," antwortete Hagen, „ehe wir hier zu jagen beginnen; dabei wer¬
den wir sehen, wer die besten Jäger bei dieser Waldreise sind. Leute
und Hunde wollen wir theilen, darauf gehe Jedweder, wohin er am lieb¬
sten will; wer dann das Beste jagt, der soll den Dank dafür haben."
Da verweilten die Jäger nicht lange beieinander. Herr Siegfried sprach:
„Der Hunde kann ich entrathen bis auf einen Bracken, der so genossen
hat, daß er die Fährte der Thiere durch den Tann hin spüre. Wir wollen
schon etwas erjagen!" Da nahm ein alter Jäger einen Spürhund und
brachte den Herrn in kurzer Zeit dahin, wo sie viele Thiere fanden. So
viele nun deren aus ihrem Lager hervorkamen, die erjagten die Gesellen,
wie noch heutzutage gute Jäger thun. Der Spürhund fand einen großen
Eber, und als der fliehen wollte, kam alsbald der Meister in der Jagd
und vertrat ihm den Weg. Das Schwein nahm zornig den kühnen De¬
gen an, er aber fing es mit seiner guten Klinge ab; kein anderer Jäger
hätte das so leichtlich gethan wie er. Als er nun den Eber erlegt hatte,
band man den Spürhund wieder an die Koppel.
Allenthalben hörte man Lärmen und Tosen von Leuten und Hunden;