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len, erleichtern ihm die schwere, bange Stunde des Todes. Er
starb mit Zuversicht auf Gottes Gnade, die sich auch des Sünders
erbarmt, wenn er Buße thut mit reuevollem Herzen.
Die Strafe macht dich, Kind, frei vom Gefühl der Schuld:
Drum straft dich nicht der Zorn des Vaters, sondern Huld!
* 105. Die Aloe.
Unscheinbar, dunkel steht und mißgestaltet
Die Aloe; mag Licht und Wärme locken,
In ihr scheint jeder Lebenstrieb zu stocken,
Und wie zum Stein ihr Blätterschmuck erkaltet;
Bis sich ihr tiefstes Herz auf einmal spaltet,
Und erst des Gärtners, dann der Welt Frohlocken,
Ein Blüthenbaum mit tausend Balsamglocken
Aus ihrem Schooße duftend sich entfaltet.
Des Menschen Seele gleicht der Wunderblume:
So lange sie sich selber will genügen,
Erfindet, sinnt und müht sie sich vergebens;
Doch kaum läßt sie in Demuth sich besiegen
Vom Licht des Heils, so wird zum Heiligthume
Ihr Innerstes und trägt den Baum des Lebens.
108. Die Morgenstunde hat Gold im Munde.
(Ein Gespräch.)
Vater. Ei, Karl, was geht denn vor? So früh bist du schon
aufgestanden? — Karl. Ha, das ist früh? Du scherzest nur!
V. Ja wohl, es ist sehr früh! So eben hat der Wächter drei
Uhr abgerufen. — K. Nicht doch! Ich fühle, daß ich erwachte
und völlig ausgeschlafen habe; denn ich bin heute ganz ungewöhn¬
lich munter.
V. Komm her und sieh auf meine Uhr! — K. O weh! es ist
schon sieben Uhr vorbei! Ach, welche Schuld trifft mich! Pfui!
das ist eine Schande! Kein Frühstück will ich; schnell nur die
Kleider her, daß ich die Schule nicht versäume!
V. Ha ha, das ist dem Schläfer einmal recht! Dir wird es
schlecht ergehen, falls du zu spät kommst. — K. O, Vater, lieber
Vater! hilf mir nur noch heute aus der Noth: entschuldige mich!
V. Wodurch? daß du nicht aufgestanden bist, als ich dich
weckte? — K. Ich bitte dich, lieber Vater! Groß ist mein
Schmerz, daß ich gefehlt habe, und gern will ich von dir die
schwerste Strafe dulden; nur nicht den Schimpf, daß mir der Leh¬
rer sagen muß: „Du bist ein fauler Mensch!"
V. Gut, heute will ich's thun; doch bessere dich! Ziehe dich
jetzt ruhig an, ich werde dich begleiten. — K. Gewiß, mein Va¬
ter; nie kommt es wieder vor, daß ich so lange schlafe.