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Die menschu ^cele. 
In der Nacht überfiel den Kranken plötzlich ein Schlagfluß, und 
ehe Klaß auf seinen Garnhandel ausgieug, war der Kauftnann ver¬ 
schieden. 
Der reiche Mann hatte einen einzigen Sehn, der in Bremen eine 
große Handlung betrieb. Klaß sah voraus, daß dieser nun alles in 
feinem Geburtsorte verkaufen und die Gelder nach Bremen ziehen 
würde. Nun, dachte er, mußt auch d u dein auf dem Hause stehendes 
Eapitälchen von 300 fl. zurückzahlen; niemand wird in unsern geld¬ 
armen Zeiten so viel auf das schlechte Hüttchen dir leihen, und du 
mußt es mit Weib und Kindern verlassen. — „Hast du nicht aber 
eben so viel von dem Verstorbenen in Händen?" fiel ihm hier ein. 
„Niemand war zugegen, als er das Sümmchen dir gab. Wahrschein¬ 
lich hat er es nicht aufgeschrieben; denn er lag ja zu Bette. Wie 
manchen schönen Thaler hättest du beim Garnhandel unterschlagen, 
wie manche Zaspel (Zahl) Garn zurückbehalten sönnen! — Das hast 
du nicht gethan." Nebst dem überlegte Klaß den großen Reichthum 
des einzigen Erben. Zwei Hundert Thaler mehr oder weniger, dachte 
er, fühlt der Mann nicht. Dazu kam noch: Seine Frau weinte vor 
Jammer über den wahrscheinlichen Verlust des Häuschens und schalt 
ihn wegen seiner bisherigen Ehrlichkeit. Was hast du nun von deiner 
Gewissenhaftigkeit, sagte sic, wenn du die 300 fl. wieder zurück gibst? 
Liegen dir Weib und Kinder nicht näher am Herzen, als der reiche 
Kaufmann in Bremen? 
War das nicht eine schwere Versuchung für den ehrlichen Klaß? 
Er mochte Verstand und Klugheit zu Rathe ziehen, wie er wollte, 
so fiel der Entschluß immer dahin aus: Du willst wenigstens abwar¬ 
ten, ob das Geld zurückgefordert wird oder nicht. Vernunft 
und Gewissen aber geboten: Nein, so nöthig auch das Geld dir 
thut, so entbehrlich es dem reichen Sohne des Verstorbenen sein mag, 
so wahrscheinlich cs auch ist, daß niemand etwas um das Geld werß 
und daß nichts'aufgeschricben ist, so wahr es auch immer sein mag, 
daß der Verstorbene gegen deine Ehrlichkeit erkenntlicher hätte sein 
D sollen; so ist es doch'deine Pflicht, das Geld zurückzugeben, und — 
er gab es bei Heller und Pfennig zurück. So, sagte er, kann ich 
wünschen, daß alte Leute denken und handeln möchten; 
denn die ganze Welt würde dann ehrlich sein. Nur mit diesem 
Bewußtsein kann ich ruhig leben und sterben. 
Indem also dieser wackere Mann durch die Vernunft erkannte, was 
recht war, fühlte er sich auch verpflichtet, es zu wollen und zu 
thun. — Die Vernunft gebietet demnach, was recht ist, und ver¬ 
bietet, was unrecht ist, und wir fühlen es, daß wir schuldig sind, 
dieser Gesetzgeberin in uns zu gehorchen, ohne nach Vortheil oder 
Schaden, nach Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit zu fragen. — 
Diese innere Billigung oder Mißbilligung -unsrer Handlungen, diesen 
Ausspruch unsrer Vernunft, welcher macht, daß wir^ gewiß wn;cn, 
was recht oder unrecht ist, nennt rnan däs Gewissen. Hätte Klaß
	        
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