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bleibt er in der strahlenden Sommerzeit, ja selbst im Herbste gleicht
sein Kleid allein einem Trauergewande; er allein trägt Leid inmitten
der bunt geschmückten Bäume, die doch, trotz ihres Prangend, der Tod
schon geküßt hat. — So kommt denn endlich der Winter heran, ge¬
hüllt in einen flimmernden Eismantel, begleitet von seinen Dienern, den
rauhen Winden. Grausam reißen sie alle zarten Blätter herab. Der
Schneefürst streut eilig dicke weiße Flocken über die kleinen Leichen,
über die ganze Erde, und alles Warme erstarrt vor seinem Anblick.
Nur der Tannenbaum schaut ihn furchtlos an und lächelt geheimnißvoll;
denn der mächtige Zauberer im Eismantel hat keine Macht über ihn.
Gott will nicht, daß alles Grün ersterbe, so lange und weil noch füh¬
lende Menschen auf Der Erde wohnen; darum drückte er dem Norden
seinen Tannen- und Fichtenkranz auf das schneeige Haupt. Unter sein
schirmendes Dach flüchten sich die Thiere vor dem eisigen Hauche des
harten Winters, und genügsame Menschen harren dort einem späten
Frühling froh und zuversichtlich entgegen.
So hat sich Friede und Freude, Schönheit und Lust getheilt
zwischen Laub- und Nadelwald, wie sie beide unseres deutschen Vater¬
landes Höhen und Thalgründe schmücken mit unvergänglichen Reizen.
49. Die Tanne.
Es spricht die Tanne guten Muths:
Ob ich an Frucht auch darbe,
Mein Reichthum ist Beständigkeit;
Ob Wetter dräu'n, ob's stürmt und schneit,
Nie ändr' ich meine Farbe. (v. Auersperg.)
3V. Der Baumstamm.
Sehe ich auf meinem Wege einen gefällten Baumstamm liegen,
so kann ich nicht vorübergehen, ohne den Todten zu betrachten und sein
Geschick zu erforschen. 'Ich zähle die Ringe auf der Durchschnitts¬
fläche und weiß nun, wie alt er geworden, wie viel Jahre er gegrünt
und geblüht hat. Ich sehe, daß einige der Jahresringe dünner und
schmäler ausgefallen sind, als die übrigen, z. B. der sechste und siebente,
das sind Hungerjahre für den Verstorbenen gewesen, da hat er mit
Nahrungssorgen zu kämpfen gehabt. Dagegen finde ich den zwölften
ungemein breit; in diesem Jahre ist es ihm wohlergangen, da hat es
an Sonnenschein und Regen nicht gefehlt. Ich bemerke ferner, daß der
Kernpunkt, das Mark, nicht in der Mitte der Durchschnittsfläche liegt,
daß auf der linken Seite des Stammes die Jahresringe enger zusammen
stehen als auf der rechten, und weiß nun, daß nach seiner rechten Seite
die Nahrung ihm reichlicher zugeströmt ist, als nach der linken. Vielleicht
hat der Todte, der jetzt am Wege liegt, einst am Saume eines Wal¬
des gestanden; vom Walde, wo er mit vielen seiner Brüder die Nahrung
zu theilen hatte, konnte ihm nicht so viel gespendet werden, als von der
Waldwiese. Doch ich sehe an meinem Stamme, daß nur die erste
Hälfte seines Lebens diese Erscheinung bietet, die zweite Hälfte hat