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war versäumt, wir standen auf einem scharfen Rande vor dem ungeheuren Abgrund.
Auf einmal erscholl der Donner, die furchtbare Ladung flog an nns vorbei, wir
duckten uns unwillkürlich, als wenn uns das vor den niederstürzenden Massen ge¬
rettet hätte; die kleineren Steine klapperten schon, und wir, ohne zu bedenken, daß
wir abermals eine ruhige Zwischenzeit vor uns hatten, froh die Gefahr überstanden
zu haben, kamen mit der noch rieselnden Asche am Fuß des Gipfels an, Hüte und
Schultern genugsam eingeäschert.
101. Das Erdbeben M Lissabon im Jahr 1755.
Es war am 1. November des Jahres 1755, als über die große, wunder¬
schöne Stadt Lissabon an der Mündung des Tajostroms in Portugal ein Un¬
glück kam, dessen Schrecken kaum ihres Gleichen finden. Freundlich war die
Sonne ausgegangen; Tausende von Menschen waren in ihren Festkleidern
nach den Kirchen geeilt, um das Fest Allerheiligen zu feiern, als man plötzlich
nach 9 Uhr ein unterirdisches Getöse wie das Rollen eines gewaltigen
Donners vernahm, und in ihm das drohende Vorzeichen eines Erdbebens er¬
kannte. In demselben Augenblick flüchteten die Bewohner der Stabt aus den
Kirchen und Wohnungen auf die Straßen; aber nur noch einem Theil gelang
die Rettung. Von einem fürchterlichen Erdstoß wankten die Häuser; die obern
Stockwerke in ganzen Straßen stürzten ein und begruben die Bewohner unter
den Trümmern; selbst die festeren Bauwerke prachtvoller Kirchen brachen zu¬
sammen und wurden der Betenden Grab. Ganze Straßenreihen waren nieder¬
geworfen; Paläste und Kirchen lagen in Schutt, und von den eingestürzten
Gebäuden fielen unaufhörlich Mauersteine und Balken nach, so daß viele
Menschen, welche der ersten Verwüstung entgangen waren, erschlagen oder ver¬
stümmelt wurden. Der erste Erdstoß warf das Haus des Glaubensgerichteö
um; der königliche Palast mit allen seinen Kostbarkeiten war wie verschwunden ;
mit einem Schlage alle Bewohner in der Jesuitenanstalt getödtet, als das Ge¬
bäude einstürzte. Auf den freien Plätzen sammelten sich die, welche der ersten
Gefahr entronnen waren. Da sah man Menschen aller Stände und jeden
Alters zusammengedrängt, alle von gleicher Angst erfüllt; auf den Knieen
liegend, die Hände zum Himmel emporgereckt, fleheten sie Gott um Schutz und
Rettung an, oder schlugen an ihre Brust und riefen: Herr, erbarme dich unser!
Nicht lange währte'es, so erfolgte ein zweiter Stoß des Erdbebens und
warf, was von Kirchen, Palästen und Häusern noch nicht eingestürzt war,
vollends gänzlich nieder. In das Krachen der zusammenbrechenden Gebäude
mischte sich das Wehgeschrei des Volkes, daß es weithin gehört wurde. Noch
lauter aber erscholl es, als nach wenigen Sekunden das Wasser des Flusses sich
hoch wie ein Gebirge emporbäumte und gegen die Stadt heranwälzte. „Das
Meer, das Meer! wir sind des Todes!" riefen viele Tausende und flohen den