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Straßen zu, in welchen ihnen durch niederfallendes Gemäuer ein anderer Tod
drohte. Wild brauste das Wasser in die Stadt; die an dem Ufer ankernden
Schiffe wurden losgerissen, und mehrere derselben von dem Strudel verschlun¬
gen. Viele Menschen fanden hier ihren Tod. Ein Damm, auf dem wohl
hundert Menschen standen, versank mit ihnen. Diese fürchterliche Erscheinung
erneuerte sich bald darauf mit dem dritten Erdstoß auf dieselbe Weise und
wiederholte sich bei jedem folgenden. Jetzt zeigte sich ein neuer Feind mit
gräßlicher Zerstörungswuth. Es entstand ein Sturm, der finstere Staubwolken
in die Luft trieb und das Licht des Tages verdunkelte. Der jüngste Tag schien zu
kommen. Der Sturm war der Vorbote einer Feuersbrunst, die vollends das
verzehrte, was das Erdbeben und Wasser verschont hatte. Was nicht erschlagen
war, oder mit dem Tod rang, stoh jetzt aus der Stadt. Auf den Feldern um¬
her lagerten die unglücklichen Bewohner Lissabons zu Tausenden ohne Obdach,
ohne Nahrung und zum Theil ohne Kleidung, einem fast ununterbrochenen
Regen ausgesetzt. Denn die benachbarten Städte und Dörfer, in welchen sie
Zuflucht hätten finden können, hatten selbst durch die Verheerungen des Erd¬
bebens gelitten. Unsäglich war das Elend, das über die Stadt Lissabon ge¬
kommen war; acht Tage wüthete die alles verzehrende Flamme. 16,000 Ge¬
bäude lagen darnieder, unter ihnen alle Haupt- und Pfarrkirchen, die Klöster,
die Krankenhäuser und fast alle öffentlichen Gebäude; nur wenige waren ver¬
schont geblieben. Liffabon war ein Schutthaufen, unter welchem das Glück
von 200,000 Bewohnern und die Leichname von 40,000 Erschlagenen be¬
graben lagen. Der Schaden der Einwohner betrug über 1000 Millionen
Gulden. Man verspürte dieses Erdbeben bis Norddeutschland, Schweden,
Amerika; ja man hat berechnet, daß am 1. November 1755 ein Erdraum
gleichzeitig erbebte, welcher an Größe viermal die Oberfläche von Europa
übertraf.
So groß jedoch das Unglück war, welches über Lissabon damals lag, und
so traurig der Jammer, unter welchem sie seufzten, so boten doch diese Tage des
Schreckens und des Elends manches rührende und erhebende Bild edler Ge¬
sinnung, heldenmüthiger Aufopferung und echt christlicher Liebe dar. In den
ersten Augenblicken, wo fast Jedermann auf Erhaltung des eigenen Lebens be¬
dacht war, sah man Einzelne mit der Errettung ihrer unglücklichen Mitbürger
beschäftigt; da, wo die Gefahr sich am größten zeigte, bemerkte man Andere, die
sich mit kühnem Muth in die Gefahr wagten, um Menschen, die ihnen bekannt
waren, über Schutt und Trümmer davonzutragen; wo Tausende nicht wußten,
was sie in der Verzweiflung thun sollten, beschützte ein junger Officier, nach¬
dem die ganze Wache geflohen war, allein die Münzgebäude und deren Schätze.
Am meisten zeichneten sich die Geistlichen aus; sie verließen ihre unglücklichen