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104. Asien.
Asien ist die Geburtsstätte der Menschheit, die Wiege der Völker, der
Ursitz aller Gesittung. Die ganze alte Geschichte hat in Asien ihren Angel¬
punkt, von Asien aus sind die Völker vorgedrungen über Nordafrika und Eu¬
ropa und haben die Bildung nach Westen getragen bis nach Amerika; wie die
Kultur des letzteren eine Tochter ist der europäischen, so ist Europa eine Toch¬
ter von Asien. Ehe man noch wußte, daß ein Festland Europa als An¬
hängsel des großen asiatischen Kontinents vorhanden sei, vielleicht ehe noch ein
Hirt oder Jäger über die Wolga und den Ural hinausgedrungen war, blüheten
im Orient schon Weltreiche, herrschten mächtige Könige in prächtigen Palästen
und großen Städten über Millionen von Unterthanen, forschten schon Weise
in den Geheimnissen der Sterne, ließen schon Priester zur Ehre der Götter
ober - und unterirdische Tempelhallen bauen, kämpften schon Völker mit Völ¬
kern auf Leben und Tod. Aber diese frühe und glänzende Bildung ist auf
Einem Punkte stehen geblieben, das Völkerleben hat sich unter dem Despotis¬
mus der Herrscher verknöchert, die Asiaten sind alte unmündige Kinder.
Schon 400 Jahre vor Christo, als die mächtigen Perserkönige das kleine
Griechenvolk mit dem Gewicht ihrer Heere zertrümmern wollte», zeigte sichs,
daß asiatischer Glanz in seiner Hohlheit und Nichtigkeit zerrann vor europäi¬
scher Kraft. Der schönste, begabteste, kraftvollste Menschenstamm, der kau¬
kasische, ist wohl in Asien geboren, aber erst in Europa zur Entwickelung sei¬
ner Kraft gelangt. Und das Christenthum, das ein neues Leben in die ver¬
sunkene Menschheit brachte, ist wohl auf asiatischem Boden entsprossen, aber
das junge Pflänzchen mußte von Asien nach Europa getragen werden, um hier
zum großen, schattigen Baume mit Blüthen und Früchten reich geschmückt
empor zu wachsen.
Der Vildungsftrom, der von Europa jetzt nach allen Gegenden der Erde
sich ergießt, wendet sich aber auch nach Osten zu seinem Quelllande zurück,
und es scheinen zwei große Nationen, die Engländer und die Russen, von der
Vorsehung dazu ausersehen, die asiatischen Völker aus ihrem Schlaf aufzu¬
rütteln und neues Leben in den starren Massen anzusuchen. Freilich, zur Höhe
des europäischen Lebens wird sich Asien nimmer emporschwingen, denn himmel¬
hohe Berge, ungeheure Steppen und Sandwüsten, unfruchtbare Hochflächen
trennen hier die Menschen weit mehr, als in Europa, wo die Nationen mehr
und mehr zu Einer großen Völkersamilie zusammenschmelzen. Die Hochflächen
der Tartarei und Mongolei werden immer von Nomadenhorden durchzogen
werden, und das sibirische Tiefland, allein schon so groß als ganz Europa,
ist nur im Süden kulturfähig, und der nördliche Theil leidet unter der strengen