275
ander, der Gafifreund gegen seinen Gast, die Fürsten und ihre Unter¬
gebenen. Unsere Vorväter waren auch sehr gastfrei. Einem Fremden
stund jede Hütte offen. Wer einen Wanderer sah, rief ihn unter sein
Dach; zwei Tage genoß er den Landfrieden, am dritten wurde er schon
als Hausgenosse betrachtet. Zog der Fremde weiter, so begleitete ihn der
Hausherr und ließ ihn nicht ohne ein Gastgeschenk von sich. Die Schande
galt bei ihnen mehr als die Strafe selbst, und überhaupt vermochten
bei ihnen, wie Tacitus, ein römischer Schriftsteller, von ihnen rühmt,
die guten Sitten mehr, als anderswo die Gesetze. So muß es sein,
wenn ein Volk wahrhaft frei und glücklich sein will!
Im Frieden hatte die oberste Leitung des Volkes der aus edlen
Geschlechtern gewählte Fürst; die bürgerlichen Angelegenheiten wurden in
den Volksversammlungen berathen, zu welchen die Landbezirke oder Gaue
zusammentraten. Das Recht wurde unter freiem Himmel öffentlich ge¬
sprochen. Der Ort der Versammlung war eine von Alters her gehei¬
ligte, offene Stätte. Solche Stätten, an denen bis in das vierzehnte
Jahrhundert hin Landgericht gehalten wurde, waren in Württemberg
z. B. am sogenannten Stein bei Cannstatt, in Tübingen auf dem „Frohn-
acker", beim Stein zu Langenau, unter der Linde zu Bermaringen rc.
Schmähliche Laster wurden durch Ertränkung in einem Sumpfe bestraft,
Feigheit mit dem, was sie gefürchtet, dem Tode.
Man hatte keine geschriebenen Gesetze, sondern urtheilte nach Gut¬
dünken und Herkommen, und auch später noch galt der Grundsatz:
„Gute Gewohnheit ist als (ebenso) gut, als geschriebene Recht."
Im Krieg wurde als Anführer ein Heermann oder Herzog gewählt,
der ursprünglich nur für die Dauer des Kriegs seine Macht hatte.
Ein solcher Heermann oder Herzog war jener Hermann oder Arminius,
der im Jahr 9 nach der Geburt Christi Deutschland von der Herrschaft
der eingedrungenen Römer befreite.
Nebrtgens sind nicht alle Gewohnheiten unserer deutschen Voreltern
zu loben. So waren sie z. B. bei aller Thatkraft doch große Freunde
des Müßiggangs. „Wenn sie nicht in den Krieg ziehen", erzählt Taci-
ius, »so bringen sie die Zeit nicht gerade viel mit Jagen, sondern mehr
mit Müßiggehen hin und ergeben sich dem Schlafen und Schmausen.
Diese tapferen, kriegerischen Leute arbeiten dann nichts, sondern überlassen
die Sorge für das Hauswesen und Feld den Weibern und Greisen und
sonst den Schwächsten im Hause. Sie selbst sind unthätig. Wunderlicher
Widerspruch", fügt er hinzu, „daß ein und dieselben Menschen so sehr die
Unthätigkeit lieben und doch die Ruhe Haffen!" Sie liebten Schmause-
18*