Full text: Lesebuch für die evangelischen Volksschulen Württembergs

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201. Herr Charles. 
Ein Kaufmann in Petersburg, von Geburt ein Franzose, wiegte 
eben sein wunderschönes Büblein auf dem Knie und machte ein Ge¬ 
sicht dazu, daß er ein wohlhabender und glücklicher Mann sei und 
sein Glück für einen Segen Gottes halte. Indem trat ein fremder 
Mann, ein Pole, mit vier kranken, halb erfrorenen Kindern in die 
Stube. „Da bring ich euch die Kinder." Der Kaufmann sah den 
Polen kurios an. „Was soll ich mit diesen Kindern thun? Wem 
gehören sie? Wer schickt euch zu mir?" — „Niemand gehören sie", 
sagte der Pole, „einer todten Frau im Schnee, siebzig Stunden her¬ 
wärts Wilna. Thun könnt ihr mit ihnen, was ihr wollt." Der 
Kaufmann sagte: „Ihr werdet nicht am rechten Orte sein", und der 
diese Geschichte erzählt, glaubts auch nicht. Allein der Pole er¬ 
wiederte, ohne sich irre machen zu lassen: „Wenn ihr der Herr Char¬ 
les seid", und der Erzähler glaubts auch; er war der Herr Charles. 
Nemlich es hatte eine Französin, eine Wittwe, schon lange im Wohl¬ 
stand ohne Tadel in Moskau gelebt. Als aber vor fünf Jahren die 
Franzosen in Moskau waren, benahm sie, sich landsmannschaftlicher 
gegen sie, als den Einwohnern wohlgefiel; denn das Blut ver¬ 
leugnet sich nicht; und nachdem sie in dem großen Brand ebenfalls 
ihren Wohlstand und ihr Häuslein verloren und nur ihre fünf Kin¬ 
der gerettet hatte, mußte sie, weil sie verdächtig sei, nicht nur ans 
der Stadt, sondern auch ans dem Land reisen. Sonst hätte sie sich 
nach Petersburg gewendet, wo sie einen reichen Vetter zu finden 
hoffte. Der geneigte Leser will bereits Etwas merken. Als sie aber 
in einer schrecklichen Kälte und Flucht mti> unter unsäglichen Leiden 
schon bis nach Wilna gekommen war, krank und aller Bedürfnisse 
und Bequemlichkeiten für eine so lange Reise entblößt, traf sie in 
Wilna einen edlen russischen Fürsten an iiub klagte ihm ihre Noth. 
Der edle Fürst schenkte ihr dreihundert Rubel, und als er erfuhr, 
daß sie in Petersburg einen Vetter habe, stellte er ihr frei, ob sie 
ihre Reise nach Frankreich fortsetzen, oder ob sie mit einem Paß nach 
Petersburg umkehren wolle. Da schaute sie zweifelhaft ihr ältestes 
Büblein an, weil es das verständigste und kränkste war. „Wo willst 
du hin, mein Sohn?" — „Wo du hingehst, Mutter", sagte der Knabe, 
und hatte Recht. Denn er ging noch vor der Abreise ins Grab. 
Also versah sie sich mit dem Nothwendigen -und akkordirte mit einem 
Polen, daß er sie für fünfhundert Rubel nach Petersburg brächte
	        
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